Haifa – Hafenstadt, Universitäts- und Wirtschaftsstandort, ein High-Tech-Zentrum erster Klasse. Und das administrative wie geistige Weltzentrum der Bahai: Auf dem Berg Karmel befindet sich in einem Mausoleum der Schrein des Bab, die in Terrassen angelegten Hängenden Gärten (Bahá’í Gardens) sind ein Ruhepol inmitten der Hektik der Stadt und einer der meistbesuchten touristischen Anziehungspunkte in Israel. Die Anlage wurde in die Liste des Unesco-Weltkulturerbes aufgenommen.
Das »moderne«, meist jüdische Haifa steht für pulsierendes Leben – und Marken wie Google und Yahoo!, IBM, Intel, Microsoft, Motorola, Philips. Money makes the world go round! Wer tüchtig ist, wird was!
Es gibt ein anderes Haifa. Ein libanesischer Jesuit, Paul Sadée, den ich nach Exerzitien bei Karmelitinnen abhole, nimmt mich zu Vinzentinerinnen mit. Im arabischen Teil der Stadt betreiben sie ein Haus für schwerstbehinderte Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene im Alter von 1 bis 25 Jahren. Auf dem Gelände gibt es auch einen Tageskindergarten.
Um die sechzig Dauerbewohner kümmern sich 150 Angestellte. Wie das Personal gehören sie einer der drei monotheistischen Religionen an: Juden, Christen und Muslime. Leider kann der Orden nur mehr vier barmherzige Schwestern stellen: eine Palästinenserin, eine Libanesin, eine Amerikanerin und ein Österreicherin, aus Tirol: Schwester Katharina Fuchs. Sie ist die Direktorin.
Ich besuche ein vierjähriges Mädchen mit Wasserkopf (Hydrocephalus), die Eltern füttern es gerade mit Joghurt. Es lächelt mich an. Andere Kinder liegen regungslos im Bett. Oder kauern in Spezialrollstühlen: von Geburt an Behinderte, Gelähmte oder Verunfallte. Ein russischer Bub hat einen Apfel verschluckt und ist seither Spastiker. Ein kleinwüchsiges Mädchen ist sieben, schaut aber aus wie drei oder vier – sie hat Wachstumsschwierigkeiten (»Zwergwuchs«), ist total aufgekratzt, weil ein »Abuna« sie besucht. Es möchte mir alle Zimmer zeigen. Schwester Katharina sagt: Sie gibt hier den Ton an!
Ein Vater schiebt seinen 20-jährigen Sohn im Rollstuhl auf die Terrasse, damit ihm der kühle Abendwind auf der Veranda etwas um die Nase weht. Zwei Kinder hatte er: der erste Sohn war fünfzehn Jahre hier, dann ist er verstorben. Der Vater lächelt, der Blick des Sohnes geht in die Leere. Viele Kinder wurden ausgesetzt oder von ihren Eltern verstoßen. Waisenkinder, Verlassene, »Versteckte« sind hier.
Die Schwestern sind für sie da, seit Jahrzehnten oft: für die Kranken ebenso wie für ihre Eltern oder Angehörigen, denen man die Dankbarkeit ansehen kann, dass sie einen »Ort« gefunden haben für ihr Leid. Es sind ihre Lieben, so wie sie sind.
Barmherzige Schwestern – im sprichwörtlichen Sinn. Auch das ist Haifa! Auch das ist Leben. Ein ganz anderes Leben. Ich fahre nachdenklich und tief bewegt nach Ein Gev an den See Genezareth, südwestlich der Golan-Höhen, zurück. Niemals werden die Bewohner des Hauses in Haifa hierher kommen können.