Dass ein Brief kommt, war schon einige Tage vorher durchgesickert. Veröffentlicht wurde das 19 Seiten umfangreiche Schreiben am 29. Juni. Papst Franziskus wendet sich »An das pilgernde Volk Gottes in Deutschland«. Zum ersten Mal in einem Brief – »inzwischen eine Art päpstlicher Krisenintervention« (Gregor Maria Hoff).

Wenn Päpste Briefe schreiben

Zuletzt hatte Johannes Paul II. die deutschen Bischöfe am 3. Juni 1999 in Sachen Schwangerschaftskonfliktberatung brieflich auf Linie zu bringen versucht. Und dann Bischof Karl Lehmann, dem damaligen Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, der nachhakte (17. November), am 20. November einen weiteren Brief geschrieben. Der Papst wünschte sich damals Geschlossenheit und ein einheitliches Vorgehen.

Benedikt XVI. hat sich im Februar 2010 in einem Brief an die Katholiken in Irland gewandt, schockiert von massenhaft dort aufgedecktem Missbrauch und dem Umgang der Bischöfe damit. Den kritisierte er.

Im April 2018 schickte Franziskus den Bischöfen in Chile im Vorfeld einer Bischofsversammlung einen Brief. Er zitierte sie in den Vatikan, um gemeinsam Konsequenzen aus dem Missbrauchsskandal zu beraten. Absolutes Novum: Die Bischofskonferenz – über dreißig Bischöfe – bot ihm geschlossen den Rücktritt an.

Im Vorfeld seiner Reise zum Weltfamilientreffen in Dublin und unter dem Eindruck eines erschütternden Berichtes über jahrzehntelangen systematischen Missbrauch in sechs Diözesen im US-Bundesstaat Pennsylvania verfasste Franziskus am 20. August 2018 ein »Schreiben an das Volk Gottes«, in dem er in aller Deutlichkeit auch auf den strukturellen Zusammenhang zwischen sexuellem Missbrauch sowie Macht- und Gewissensmissbrauch hinwies. Er beklagte darin auch »Komplizenschaft«, »Klerikalismus« und »Selbstherrlichkeit« in der Kirche würden Missbrauch fördern und begünstigen.

Verfrühte Nachrufe

Und nun: Post aus Rom – nur für Deutschland. Für eine Kirche, deren Bischofskonferenz sich, zusammen mit dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK), anschickt, sich auf einen »synodalen Weg« einzulassen. Wie so oft: Die einen lesen das heraus, die anderen das glatte Gegenteil. Überall Papstdeuter. Bestätigt fühlen sich die einen wie die anderen. Vermisst wird: Weder das Wort Missbrauch noch das Wort Kirchenreform kommt vor. Es fällt auch kein Machtwort.

Tenor der negativen oder hyperkritischen Kommentare: Wieder eine verspielte Chance! Der Papst ist müde. Er formuliert zu weitschweifig. Und man fragt: Ist diesem Papst noch zu trauen? Ist er noch ein Reformer? Verspielt er seine Reformen? War er jemals ein Reformer? Manches klingt schon wie ein Nachruf. Auf jemanden, den man abgeschrieben hat.

Zauberwort Synodalität

Meine Lesart: Nichts von alledem! Papst Franziskus wirbt – um Vertrauen. Er möchte »Nähe« zeigen und die »Sorge um die Zukunft der Kirche in Deutschland teilen«. Ist das die übliche päpstliche Rhetorik? Nein. Seine »Unterstützung« zeigt sich darin, dass er auch auf »die zunehmende Erosion und den Verfall des Glaubens« hinweist. Er fragt, wo und wie evangelisiert wird. Wo die »Frische« und der »Biss« des Evangeliums geblieben sind. Er warnt davor, »unser Vertrauen auf die Verwaltung zu setzen, auf den perfekten Apparat« – aus »Evangelii gaudium« (2013) zitierend.

Franziskus kennt die Deutschen. Und ihre Kirche: ihre Stärken und ihre Schwächen. Und die Versuchungen. Zölibat, Frauen, Ämterfragen, Klerikalismus … All das muss angegangen werden. Keine Frage. Aber das geschieht hier vor Ort, dafür ist ein Prozess in Gang gesetzt worden, der kaputtgeredet wird, bevor er begonnen hat.

»Macht mal«, könnte Franziskus gesagt haben. Aber eben auch: »Camminare insieme« – Gemeinsam unterwegs sein! Verzettelt Euch nicht, vergesst nicht, dass es zuerst um das Reich Gottes geht, um die Botschaft Jesu. Dann erst kommt alles Strukturelle. Apropos: Es ist in diesem Brief auch von Synodalität die Rede: Sie setze »die Einwirkung des Heiligen Geistes voraus und bedarf ihrer«. Und Franziskus betont, dass der »Synodalität von oben nach unten« eine »Synodalität von unten nach oben« vorausgehen muss. Diesen wichtigen und entscheidenden Hinweis vermisste ich in vielen eilig erstellten Stellungnahmen.

Der Papst kann nur motivieren, werben, einladen, begleiten – und das tut er in diesem Brief.