Wer zitiert, macht sich zum Komplizen. Die Analyse könnte von Franziskus stammen. Aber sie geht auf einen anderen Jesuiten zurück: »Die Kirche ist zweihundert Jahre lang stehen geblieben. Warum bewegt sie sich nicht? Haben wir Angst? Angst statt Mut? Wo doch der Glaube das Fundament der Kirche ist. Der Glaube, das Vertrauen, der Mut. […] Nur die Liebe überwindet die Müdigkeit.«

Ein Interview von 2012 …

Diese Worte fielen im letzten Interview, das der langjährige Erzbischof von Mailand (1979 bis 2002), Carlo Maria Martini SJ (1927–2012), gab: Am 8. August 2012 hat er in Gallarate bei Mailand mit Federica Radice-Fossati Confalonieri und Georg Sporschill SJ gesprochen. Am 31. August 2012 starb Martini. Einen Tag später wurde das Interview im Corriere della Sera veröffentlicht – und fand weltweit beachtet.

In deutscher Übersetzung ist es in voller Länge leicht greifbar in: Carlo Maria Martini, Gottesspuren. München: Verlag Neue Stadt 2013, 243–247; vgl. auch: Andreas R. Batlogg, Der unerhörte Kardinal, in: Stimmen der Zeit 230 (2012) 732–733; ders., Den Tod verdauen. Wenn das Wort verstummt: Carlo Maria Martini (1927–2012), in: Stimmen der Zeit 232 (2014) 633–635.

Martini war als Bischof kein »Kirchenfürst« und hat auch als Kardinal den Mund nicht erst im Ruhestand aufgemacht und freimütig gesprochen. Viele hatten sich im Konklave im April 2005 gewünscht, dass aus dem »Martini rosso« (Kardinal) ein »Martini bianco« (Papst) wird – ein italienisches Wortspiel, auf das der namhafte Bibelgelehrte und geistliche Schriftsteller oft angesprochen wurde. Bekanntlich wurde damals Joseph Ratzinger gewählt, wie Martini Jahrgang 1927.

Papst Franziskus hat die Einschätzung Martinis in seiner Ansprache beim traditionellen Weihnachtsempfang für die Römische Kurie am 21. Dezember 2019 zitiert, ganz am Ende. Damit hat er sie sich zu eigen gemacht.

Päpstliche Weihnachtsansprachen: Und diesmal?

Die Weihnachtsansprachen von Papst Franziskus sind berühmt ‒ und berüchtigt. Wiederholt hat er deutliche Worte für seinen »Apparat« gefunden, den er oft als schwerfällig und wenig reformfreudig empfindet. Viele Mitarbeiter fühlten sich auf den Schlips getreten. »So redet ein Papst nicht« – war öfters zu hören. Und auch: »Dieser Stil ist demotivierend.« Aber nichtssagende Sonntagsreden oder leere Floskeln sind Franziskus zuwider. Er ist und bleibt direkt.

Der emeritierte Würzburger Pastoraltheologe Erich Garhammer hat in einem eigenen Buch die Ansprachen von 2013 bis 2017 analysiert (Erich Garhammer, Der Chef. Die jährliche Therapie an Weihnachten. Würzburg: Echter Verlag 2018, 154 S.). Auch die jüngste Ansprache unterzog er einer Analyse (»Verhaltener im Ton – deutlich in der Sache«) und verglich sie mit den Ansprachen in den Jahren zuvor (vgl. https://erichgarhammer.de/2019/01/07/weihnachtsansprache-von-papst-franziskus/).

Auch Jürgen Erbacher nahm in seinem viel beachteten Blog »Papstgeflüster« auf die Weihnachtsansprache Bezug (http://blog.zdf.de/papstgefluester/2019/12/21/papst-es-gibt-keine-christliche-leitkultur-mehr/): »Letzten Endes war es einmal mehr eine Werberede für seine Reformen in der römischen Verwaltungszentrale, aber auch in Bezug auf seine Vision von Kirche. Alles stehe unter dem Primat der Evangelisierung, erklärte Franziskus. Aber das Christentum habe längst die Deutungshoheit über die Welt verloren. Also müsse die Kirche sich schleunigst auf die neuen Zeiten einstellen. Dabei verwies Franziskus ausdrücklich auf die Tradition, die nie statisch sei, sondern dynamisch.«

Sage noch einer: Franziskus habe resigniert und aufgegeben! Ich werde nicht müde, auf sein wegweisendes Schreiben »Evangelii gaudium« vom November 2013 hinzuweisen – eine intellektuelle Meisterleistung ebenso wie eine spirituelle Vitaminspritze. Auch wenn der Widerstand in der Kirche anwächst, Kardinäle diesen Papst öffentlich und unter der Gürtellinie kritisieren – die »Nachrufe« sind verfrüht! Ich bewundere die Zähigkeit von Franziskus, seine Ausdauer – und seine Zuversicht. Glaube, Vertrauen, Mut – dafür wirbt er.

Das Evangelium leben

Unmittelbar bevor der Papst Martini zitiert, kann man lesen: »[D]ie Römische Kurie ist nicht ein von der Wirklichkeit losgelöster Körper – auch wenn diese Gefahr immer besteht. Vielmehr muss sie im Heute des von den Männern und Frauen zurückgelegten Weges, in der Logik des Epochenwandels verstanden und erfahren werden. Die Römische Kurie ist nicht ein Gebäude oder ein Schrank voller Kleider, die angezogen werden, um eine Veränderung zu rechtfertigen. Die Römische Kurie ist ein lebendiger Körper, und sie ist es umso mehr, je mehr sie das Evangelium in seiner Vollständigkeit lebt.«

Franziskus – der evangelische Papst: einer, der aus dem Evangelium lebt; einer, der auf Jesu Tun und Wirken schaut. Daraus bezieht er seine Kraft. Von daher entwickelt er seine Vision von Kirche. Mir gefällt, dass er dafür auch ein nationales Epos bemüht, den Roman »Der Leopard« von Giuseppe Tomasi di Lampedusa (1896‒1957), und den Satz zitiert: »Wenn wir wollen, dass alles so bleibt, wie es ist, muss sich alles verändern.« Ironischerweise fand der italienische Schriftsteller und Literaturwissenschaftler zu Lebzeiten keinen Verleger für »Il Gattopardo«. Mein italienischer Lieblingsschriftsteller Giorgio Bassani veröffentlichte den Roman im November 1958 – und es wurde ein Welterfolg daraus (der später auch verfilmt wurde – mit Größen wie Burt Lancaster, Claudia Cardinale und Alain Delon).

Es geht Franziskus nicht um neue Kleider, sondern um neue Mentalitäten, um neue Einstellungen, um veränderte Herzen. Nur solche Menschen haben den Mut, der Kirche auf die Sprünge zu helfen. Damit sie sich bewegt. Und nicht stehen bleibt.