Und dann war alles wieder ganz still. Urplötzlich. Und der heftige Sturm, der Mitte Januar tagelang andauerte, wurde als eine Verkettung von Missverständnissen hingestellt, aufgebauscht von »den Medien«.
Künstliche Aufregung?
Wieder einmal – die »sprungbereite Feindseligkeit«, mit der in Deutschland über Joseph Ratzinger hergefallen wird? Wieder einmal – eine »für mich nicht vorsehbare Panne«, wie seinerzeit (2009), bei der Aufhebung der Exkommunikation der vier Lefebvre-Bischöfe, darunter der bekannte Holocaust-Leugner Richard Williamson? Wieder einmal – alles nur Missverständnisse? Oder doch Machtkämpfe? Intrigen?
Ein Verwirrspiel sondergleichen. Gewollt, gelenkt oder einfach passiert? Absicht oder Zufall? Eine »kalkulierte Provokation«? Um Papst Franziskus zu brüskieren, unter Druck zu setzen? Waren wir Zeugen einer beispiellosen Illoyalität? Eines Affronts? Man wird es nie richtig wissen, auch weil der Vatikan nach wie vor eine verschwurbelte Sprache benutzt, wenn es darum geht, einen Vorgang zu erklären. Man sagt nicht, was Sache ist »bei Hofe«. Die Herder Korrespondenz dekretierte: Die »mediale Aufregung« sei »gegenstandslos« (Lucas Wiegelmann, Good Pope, bad Pope, in: HK 2/2020, S. 4–5).
Hatte nun Benedikt XVI. als Co-Autor zu gelten, wie die französische und die englische Ausgabe insinuieren? Oder handelte es sich, wie die deutsche Fassung (nach einer Intervention des Privatsekretärs) klarstellt, nur um einen »Beitrag«? In welche Position heben sich zwei Autoren, wenn sie in ihrer Einleitung auf den Kirchenvater Augustinus Bezug nehmen und pathosbeladen verkünden: »Ich kann nicht schweigen (Silere non possum)«?
Immerhin: Der Zeitpunkt war, ob nun beabsichtigt oder nicht, delikat – denn alle Welt wartet mit Spannung darauf, wie Papst Franziskus in seinem nachsynodalen Schreiben mit dem Votum von zwei Drittel der stimmberechtigten Bischöfe auf der Amazonas-Synode vom Oktober 2019 umgeht, die eine Freistellung bzw. Lockerung des Zölibats nahelegten, mindestens für die besagte Region, in der manche Gemeinden bestenfalls ein Mal pro Jahr Eucharistie feiern können, weil es so wenige Priester gibt.
Georg Gänswein hätte die Erklärung »100 Prozent Benedikt« gar nicht nachschieben müssen. Benedikts Überlegungen – die nicht mehr, aber auch nicht weniger wiedergeben als die private Sicht eines ehemaligen Papstes – wurden als gezielte Intervention gewertet: Am Zölibat nicht rütteln, sondern kompromisslos festhalten! Keine halben Sachen! Der Denkfehler dabei: Es gibt verheiratete Priester in der katholischen Kirche. Und der Zölibat gehört gerade nicht, wie das letzte Konzil festhielt, zum Wesen des Priestertums.
Gänswein ist weg
Zurück bleibt: ein aufgebrachter afrikanischer Kurienkardinal, der dem Privatsekretär des ehemaligen Papstes widerspricht und sich gegen Unterstellungen und »Verleumdungen« via Twitter (!) verwahrt. Zurück bleiben: Benedikt-Verehrer, die sich bestätigt fühlen, dass man an dem »Papst aus Bayern« ständig herumnörgelt. Zurück bleiben: Franziskus-Verehrer, die nicht länger wiederholen können, zwischen die beiden Päpste passe kein Blatt Papier.
Zurück bleibt: Der deutsche Kurienerzbischof Georg Gänswein, seit März 2013 Diener zweier Herren in seiner Doppelrolle als Privatsekretär eines ehemaligen Papstes und Präfekt des Päpstlichen Hauses des amtierenden Papstes, tritt seit Mitte Januar nicht mehr in Erscheinung. Er ist aus der Öffentlichkeit verschwunden. Weg. Von »Absetzung«, »Beurlaubung«, »Freistellung«, »Entlassung«, »Suspendierung« und »Entmachtung« war die Rede.
Vatikansprecher Matteo Bruni sprach von einer routinemäßigen, »normalen Umverteilung der verschiedenden Aufgaben des Präfekten des Päpstlichen Hauses«. Andere Quellen behaupteten, Papst Franziskus sei endlich der Kragen geplatzt, der Meister und sein Diener seien aneinander geraten. Jetzt könne sich Gänswein mehr um den greisen Benedikt kümmern.
Es gibt keinen Nebenpapst
Nein, es gibt keinen Nebenpapst. Auch keinen Schattenpapst. Auch keinen Gegenpapst. Es gibt nur einen Papst. Der US-amerikanische Jesuit Thomas J. Reese, ehemals Chefredakteur der Zeitschrift America«, jetzt »Senior Analyst« beim Religion News Service, brachte es – wie so oft – auf den Punkt: »Zwei Päpste sind einer zuviel« (Two popes are one too many).
Zwei Päpste – das gibt’s nur im Film. Ich habe mich über die Netflix-Produktion mit Anthony Hopkins (Benedikt) und Jonathan Price (Franziskus) amüsiert. Sie erhielt sogar eine Oscar-Nominierung. Als ich kurz vor Weihnachten einige Tage in Rom war, konnte ich an einem Palazzo an der Via della Conziliazione in unmittelbarer Nachbarschaft der Sala Stampa, des vatikanischen Pressesaals, nur einen Steinwurf von der Piazza di San Pietro entfernt, ein riesiges Transparent bestaunen, das für »I due Papi« warb. So fiktiv und konstruiert der Film auch ist: Gewisse Charaktereigenschaften des deutschen wie des argentinischen Nachfolgers auf dem Stuhl Petri sind nicht nur humorvoll ins Bild gesetzt. Sie treffen so oder so auch zu.
Nachdem kurz nach Jahresbeginn auch eine BR-Produktion noch einmal ein warmherziges Lebensbild von Joseph Ratzinger / Benedikt XVI. ausstrahlte, war der wie auch immer gedachte »Winkelzug« von Kardinal Robert Sarah, wahrlich kein Franziskus-Fan, ein Schuss nach hinten. Zwar wissen jetzt alle: Es gibt »ihn« noch – Benedikt XVI. Er denkt noch mit. Er nimmt teil.
Ich denke: Benedikt / Joseph Ratzinger kann alles sagen, schreiben, kommentieren, was er will. Aber es soll privat bleiben und nicht öffentlich werden. Was posthum veröffentlicht wird, zeigt: Bis zu seinem Lebensende hat da einer mitverfolgt, was passiert. Hat seine Gedanken und Überlegungen dazu festgehalten. Aber wer einmal Papst war, muss jeden Anschein vermeiden, er wolle kommentieren, gar korrigieren oder lenken, was sein Nachfolger sagt und tut. Benedikt wird damit dem eigenen Vorsatz untreu, auch wenn manche sein »Schweigegelübde« einen »Mythos« nennen.
Denn die Missverständnisse häufen sich seit dem 28. Februar 2013 – als Papst Benedikt XVI. Geschichte war. Und wieder zu Joseph Ratzinger wurde. Dass er den Papstnamen beibehalten hat, weiterhin eine weiße, wenn auch einfachere Soutane trägt, sich mit »Heiligkeit« anreden lässt … All das wirkt in einer bilderversessenen Medienwelt völlig anders als zu Zeiten, in denen man einen Papst höchst selten zu Gesicht bekommen hat. Denn »die reale Psychologie der Wahrnehmung spricht eine eigene Sprache«, so das nicht namentlich gezeichnete Editorial der Zeitschrift Christ in der Gegenwart: »Die Aura (Ex-)Papst« (CiG 2/2020, S. 29). Es gibt freilich auch zu bedenken, dass ein schweigender, nicht mehr weiß gewandter Benedikt ebenfalls eine Wirkung auslöst: »die ihm durch die auratische Aufladung zugemessene Ausstrahlung verschwindet nicht«. Stimmt, sie verschwindet nicht einfach.
Aber die Wahl zum Papst ist eben eine Wahl, keine Weihe. Wer aufs Amt verzichtet, sollte auf alle mit dem Petrusdienst verbundenen symbolischen Zeichen wie inhaltlichen Rechte verzichten. Das Amt inkarniert nicht in der Person, auch wenn Georg Gänswein einmal bei einem Vortrag an der Päpstlichen Universität Gregoriana die Vorstellung eines »erweiterten« Amtes »mit einem aktiven und einem kontemplativen Teilhaber« ins Spiel brachte – und bald darauf zurücknehmen musste.
Kirchenrechtliche Klärungen sind nötig
Selbst der Titel Papa emerito, den auch Franziskus verwendet, ist kanonistisch wie auch dogmatisch bedenklich. Ganz abgesehen von seinen verschiedenen Stellungnahmen zu theologischen Streitfragen (z. B. Judenmission) oder zur Missbrauchsdebatte – bei denen Argumente zum Tragen kamen, die vor allem eine bruchlose Kontinuität mit dem Lebenswerk des Theologen Joseph Ratzinger unter Beweis stellen sollten.
Vorschläge liegen längst auf dem Tisch: Wie sich künftig nicht nur das Warum eines freiwilligen Rücktritts (den der CIC/1983 vorsieht), sondern auch das Wie regeln ließe. Um Missverständnisse und Zweideutigkeiten von vornherein auszuschließen bzw. zu vermeiden.
Zuletzt hat der Kirchenhistoriker Enrico Galavotti in der Zeitschrift Il Regno auf diese Notwendigkeit hingewiesen, in der Februar-Ausgabe der Herder Korrespondenz kann man den Artikel auf Deutsch lesen: »Tu Ex Petrus« (HK 2/2020, S. 20–22): »Auch wenn es aus naheliegenden Gründen gerade Franziskus kaum möglich ist, die Frage nach dem Status eines Papstes emeritus zu klären: Es braucht in dieser Sache eindeutige Rechtsvorschriften. Diese Vorschriften sollen die Einzigartigkeit des Papstamtes betonen und für den emeritierten Papst den Verlust sämtlicher innerer und äußerer Elemente festschreiben, die auf die päpstliche Würde verweisen.«