Natürlich hätte auch ich es mir anders gewünscht. Und ich kann die breite Enttäuschung von verschiedenen Seiten verstehen – weil ein Signal für die Weltkirche davon ausgegangen wäre: »Viri probati« fürs Amazonasgebiet. Was dort möglich ist, kann es auch andernorts geben.

Zugegeben: Dass Franziskus das Votum von zwei Drittel der stimmberechtigten Bischöfe übergeht, die sich »in Ausnahmefällen« für eine Lockerung des Pflichtzölibats ausgesprochen hatten – damit die Feier der Eucharistie sichergestellt werden kann, wie immer wieder in Erinnerung zu rufen ist –, finde ich bedauerlich. Das Anliegen ist mit keinem Wort erwähnt. Das irritiert. Ist das nicht ein Widerspruch zu einem Werben um mehr Synodalität in der Kirche?

Auch wenn es naiv klingt: Ich weigere mich, in den Chor der Nachrufe und Grabgesänge einzustimmen. Und Papst Franziskus als Reformer abzuschreiben.

Andere Schwerpunkte

»Der Papst desillusioniert. Er bedient nicht die Reform-Agenda des Synodalen Weges in Deutschland. In dieser Weigerung dürfte das Bemühen stehen, den Begriff Reform zu weiten«, so der Wiener Theologe Jan-Heiner Tück (NZZ). Polemisch hingegen, ja schadenfroh, aber nicht überraschend, Christian Geyer (FAZ): »Im ganzen Schreiben kein Wort zu den viri probati, der medialen Chiffre für Aufklärung und Reform im kirchlichen Dienst. Tatsächlich erstaunt, wie unbekümmert der Papst die Erwartungen ›der Öffentlichkeit‹ an eine explizite Reformagenda bricht. Kühl lässt Franziskus die ›heißen Eisen‹ des deutschen Synodalen Wegs links liegen, Weltkirchlich nimmt der Synodale Weg damit etwas den Geschmack von kaltem Kaffee, jedenfalls büßt er ein wenig von seinem avantgardistischen Nimbus ein.«

Richtig ist: Franziskus erfüllt nicht unsere Wünsche. Unsere Reformagenda ist nicht identisch mit Themen und heißen Eisen der Weltkirche und den Wünschen und Vorstellungen in anderen Teilkirchen. Misereor-Hauptgeschäftsführer Pirmin Spiegel, der an der Synode teilgenommen hat (er war jahrelang Pfarrer im Amazonasgebiet) schrieb in der ZEIT: »Die Amazonassynode ist keine Kopiervorlage, aber Inspiration, aufzubrechen.«

Soviel Optimismus und Zuversicht werden die wenigsten aufbringen können. Hierzulande. Aber ich denke nicht, dass Stimmen wie die von Kardinal Reinhard Marx und Kardinal Christoph Schönborn OP, beide Synodenteilnehmer, einfach vom Tisch gewischt werden sollten.

Marx machte in einer Pressekonferenz deutlich: »Ich sehe nicht, dass eine Diskussion abgeschlossen ist. (…) Sicherlich werden auch Punkte in die entsprechenden Foren des Synodalen Weges mit einfließen.« Darüber soll auf der Frühjahrs-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz, die einen neuen Vorsitzenden zu wählen hat, beraten werden.

Und Schönborn meinte in einer ausführlichen Stellungnahme: »Ich möchte erneut darauf hinweisen, dass nicht alle doktrinellen, moralischen oder pastoralen Diskussionen durch ein lehramtliches Eingreifen entschieden werden müssen.« Und im Blick auf die Zölibatsfrage: »Papst Franziskus schafft es wieder, alle zu enttäuschen, die hier eine Schwarz-weiß-Antwort erwartet haben. Aber wieder versucht er, die Perspektive zu erheben, zu weiten oder zu vertiefen, um den Konflikt zwischen zwei Positionen zu überwinden.«

Ist das reiner Zweckoptimismus? Alles nur »beschwichtigende Rhetorik« (Claudia Möllers, Münchner Merkur)? Ich glaube nicht. »Im Blick auf mögliche Ausweitungen der Ausnahmeregelungen zum Zölibat hat die Amazoniensynode eine Tür geöffnet, der Papst hat sie offensichtlich nicht wieder geschlossen«, so Schönborn. Und er fasst das Ergebnis der dreiwöchigen Beratungen, vielleicht etwas sybillinisch, zusammen, wenn er darauf hinweist, dass das jüngste Franziskus-Dokument als ein »grundsätzliches Ja des Papstes zu den Ergebnissen der Amazonien-Synode« gelesen werden könne, »ohne gleich diese Ergebnisse in konkrete Maßnahmen umzusetzen«.

Auch Neo-Kardinal Michael Czerny SJ, seines Zeichens Untersekretär des Dikasteriums für die ganzheitliche Entwicklung des Menschen, sieht in dem Papstdokument keinen Schlusspunkt in der Zölibatsfrage: »Darüber wird weiter debattiert werden«. Gleichlautend Kurienkardinal Lorenzo Baldisseri, der Synoden-Generalsekretär: »Vieles ist noch im Gange. Es muss weiter diskutiert werden«. Der Papst habe die Vorschläge der Synode ebenso wenig verworfen wie er ihnen explizit zugestimmt habe. Und indem er das Schlussdokument »nur vorgestellt« habe, sei die »moralische Autorität« der Synodenväter und ihrer Beschlüsse de facto bestätigt worden.

Solche Stimmen sind ebenso wahrzunehmen, zu werten und zu gewichten wie die journalistische Einschätzung von Matthias Drobinski (SZ): »Peng, die Tür ist zu. Zugeschlagen hat sie Franziskus, der Papst, den viele bislang für den Türöffner der katholischen Kirche hielten.«

Ein Kommunikationsproblem – und ein Vorschlag

Im siebenten Pontifikatsjahr müssen wir endlich lernen, dass der Papst nicht so denkt und tickt, wie wir es am liebsten hätten, nördlich der Alpen. Seine Ausdrucksweise, seine Metaphern, seine Direktheit und seine Saloppheit sind vielen Europäern, erst recht in deutschsprachigen Ländern, fremd (geblieben).

Gleichwohl würde ich mir wünschen, dass er auf kulturelle Befindlichkeiten mehr Rücksicht nimmt – auch bei uns. Denn sein Frauenbild wirkt hierzulande mittelalterlich, ja beleidigend.

Wer sagt ihm das? Ich traue es Kardinal Marx zu, der über den Kardinalsrat unmittelbaren Zugang zum Papst hat. In der Tradition des Jesuitenordens gibt es die Einrichtung des »Admonitors«, des Ermahners: Wenn ich einem Oberen etwas nicht selbst sagen will, wenn ich mich ungerecht behandelt fühle, kann ich ihm das über einen vom Provinzial ernannten Admonitor »stecken«. Und der Obere ist verpflichtet, darauf zu hören. Franziskus kennt diese Einrichtung.

Globale Aufmerksamkeit für indigene Kulturen

Dass das am 12. Februar 2020 veröffentlichte nachsynodale Lehrschreiben »Querida Amazonia« (Geliebtes Amazonien) eine Reflexion auf die Synode vom Oktober 2019 ist und zuallererst ökologische Fragen betrifft, in Fortschreibung der Enzyklika »Laudato sì« von 2015, geht in den ersten aufgewühlten Reaktionen und schnellen Analysen weitgehend unter. Selbst dass die erste und die dritte Vision des Textes, die »soziale« und die »ökologische Vision«, als indirekte »Kampfansage an Brasiliens Präsidenten Jair Bolsonaro und seinen Glauben (ist), Gott habe die Erde dem Menschen zur Ausbeutung überlassen« (M. Drobinski) gelesen werden können, interessiert hierzulande die wenigsten.

Klimawandel und Umweltverschmutzung, Korruption, Menschenhandel und Sklaverei, Rauschgifthandel – diese Themen sind im Amazonasgebiet leidvolle Realität. Franziskus lenkt, zusammen mit den Synodenteilnehmerinnen und Synodenteilnehmern, den Blick darauf. Und wertet damit die indigene Bevölkerung, ihre Kulturen und ihre Weisheit auf – für manche »fromme«, stark auf die Orthodoxie bedachte Katholiken durchaus ein Dorn im Auge, die darin eine Aufweichung der »reinen Lehre« sehen. Kardinal Marx hatte zum Abschluss der dreiwöchigen Beratungen betont: »Die Synode habe ich als eindrucksvolles Forum des Zuhörens erlebt, um zu lernen, was den anderen berührt.«

Apropos: Wer hat das 51 Seiten starke Papstschreiben »Querida Amazonia« schon gelesen? Ganz, nicht nur in Auszügen oder nur nach den beiden Stichworten Frauenweihe und »viri probati« suchend?

Allein darauf reduziert, kann ich einige Einschätzungen nachvollziehen, aber sie schreiben damit ein Papstdokument ab, das mehr enthält: »Franziskus ist aller revolutionären Rhetorik zum Trotz nicht gewillt, Reformen anzugehen« (Thomas Jansen, FAZ). Er sei »mutlos« geworden und als Reformer endgültig »gescheitert« (Thomas Schüller). »Alles bleibt beim Alten« (Claudia Moellers, Münchner Merkur). »Franziskus zieht genau da die Grenze, wo die Debatte aus dem Amazonasbecken herausschwappen und auf die gesamte Weltkirche übergreifen könnte« (Matthias Drobinski, SZ).

Angst vor dem Dominoeffekt?

Dass eine Synode kein Parlament ist, sondern ein beratendes, vom Zweiten Vatikanischen Konzil auf den Weg gebrachtes Instrument, daran hat Franziskus nie einen Zweifel gelassen. Wer »Querida Amazonia« aufmerksam liest und nicht nur als »ein Dokument der Begrenzung und der Angst« (Matthias Drobinski) wertet (»Angst vor dem Dominoeffekt, vor dem Kontrollverlust, vor allem aber vor dem Argument, das die alten Festlegungen infrage stellen könnte«), wird darin viel Positives entdecken können. Wertschätzung für eine Region, deren Schicksal und deren Zukunft unmittelbaren Einfluss auf das Schicksal dieses Planeten haben.

Die zentrifugalen Kräfte der Weltkirche sind ebenso stark wie der Widerstand im »Apparat« groß ist. Der Papst hat sich nie mit der Römischen Kurie angefreundet. Sie ist ihm fremd geblieben. Er setzt lieber auf externe Berater. Auf Dauer wird das ein Problem. Denn Päpste kommen und gehen, der Apparat bleibt.

Mit einem Federstrich könnte Franziskus den Zölibat freistellen oder aufheben. Oder das Frauenpriestertum einführen. Er tut es nicht. Warum? Weil Reformen nichts taugen, solange nicht zuerst Herzen berührt, Mentalitäten verändert, Einstellungen radikal überprüft werden: Das ist die »Unterscheidung der Geister«, die nicht von einer einzigen Kultur, einer einzigen Mentalität, eine einzigen Theologie bestimmt und geprägt sein darf! Auch nicht von den Wünschen einer einzigen Teilkirche.

Mir ist sympathisch, was Pirmin Spiegel im Rückblick festhält – und das ist auch eine indirekte Leseanweisung: »Wieder einmal eine Überraschung von Franziskus. Mit seinem Schreiben setzt der Papst ein Schlussdokument der Bischöfe Amazoniens in Kraft. (…) Franziskus hat den Mut, einzugestehen, wo wir in Sackgassen geraten sind. Und er skizziert den Horizont, auf den hin die Umkehr erst Sinn ergibt. Sein Traum handelt von der Geschwisterlichkeit untereinander, vom Respekt vor der Schöpfung, von der Achtung aller Kulturen, von lebendigen Gemeinden.«

Das Schlussdokument der Synode vom Oktober ist ebenso downloadbar wie das Schreiben von Papst Franziskus:

https://www.adveniat.de/informieren/aktuelles/eine-kirche-die-zuhoert-schlussdokument-amazonas-synode/

http://w2.vatican.va/content/francesco/de/apost_exhortations/documents/papa-francesco_esortazione-ap_20200202_querida-amazonia.html