Das Interview mit Antonio Spadaro SJ, dem Direttore der italienischen Jesuitenzeitschrift »La Civiltà Cattolica«, erschien mitten im Sommerloch: in der August-Ausgabe der Herder Korrespondenz (20-24). Es ist lesenswert – und aufschlussreich.

Spadaro hat im August 2013 den neuen Bischof von Rom zu einem (ersten) umfassenden Interview bewegen können, das am 19. September 2013 zeitgleich – eine kleine Sensation – auf den Webseiten von dreizehn europäischen Kulturzeitschriften des Ordens veröffentlicht wurde, darunter die »Stimmen der Zeit«, die das Interview dann auch in Buchform herausbrachten. Damals schaute es noch so aus, als sei dies eine rare Ausnahme. Mittlerweile ist evident, dass Franziskus das Medium Interview nutzt, um über diesen Kanal seine Anliegen und Anschauungen unters Volk zu bringen – vermutlich nicht zur Freude des »Apparats«, der Römischen Kurie. Päpstliche Versuchsballone sozusagen.

Seither gilt Spadaro als »Papstvertrauter«, was sicherlich zutrifft. Und weil er diesen Status vertraulich behandelt und schützt, wehrt er im Interview gleich eingangs auch alle Mutmaßungen von Lucas Wiegelmann fachmännisch ab, er sei Berater, Spin Doctor oder Ghostwriter des Papstes. Von solchen Klischees ist es ja nicht weit zum »Strippenzieher«, zum Einflüsterer – und in der Logik solcher Verdächtigungen zur jesuitischen Weltverschwörung.

Ich schätze solche Zurückhaltung: »Hin und wieder gibt es einen Austausch, der durchaus lebhaft sein kann. Aber der Papst hat seinen eigenen Kopf.«

Kein Don Quichotte der Kirchenreform

Am Wichtigsten in diesem Interview ist für mich der Hinweis, dass Franziskus keine (Reform-)Agenda abarbeitet: »Einmal habe ich ihn gefragt: ›Aber Padre, wollen Sie denn nun die Kirche reformieren?‹ Seine Antwort war: ›Nein. Ich will, dass Christus immer mehr zum Zentrum seiner Kirche wird. Dann wird er selbst es sein, der sie reformiert.‹ Wenn also die Frage lautet, ob Franziskus ein theologischer Reformer ist, der einen bestimmten Plan im Kopf hat, würde ich sagen nein. Er ist kein Don Quichotte der Kirchenreform. Für ihn besteht die wahre Reform in der Unterscheidung im Lichte des Heiligen Geistes. In diesem Sinne geht er voran, hörend und meditierend.«

Und Spadaro setzt noch etwas drauf: »Der Ort, an dem Franziskus seine Entscheidungen trifft, ist nicht sein Schreibtisch, sondern seine Kapelle. Seine Morgenandacht.« Für unsere Ohren – nördlich der Alpen – ist das vielleicht ungewöhnlich. Realpolitisch naiv – für das Oberhaupt des ältesten Global Players und gleichzeitig Chef des kleinsten Staates der Welt? Oder kommt hier vielleicht eine Dimension ins Spiel, die sonst (manchmal auch in der Kirche) so gar nichts zählt?

Unterscheidung der Geister: Jesuitische Entscheidungsfindungskultur

Franziskus ist Jesuit. Das ist eine bekannte Tatsache. Aber sie hat eben auch ganz konkrete Auswirkungen – auch für die Entscheidungsfindungskultur, die er seit nunmehr über zweiundsechzig Jahren kennt und praktiziert. Sie half ihm auch als Weihbischof, Koadjutor und Erzbischof von Buenos Aires – und jetzt, als Papst.

Spadaro erklärt: »Unterscheidung setzt eine persönliche Haltung voraus, die auf den Heiligen Geist hören will. Nicht die Person selbst und ihre Fähigkeiten stehen im Zentrum, sondern der Wille Gottes. Wenn Franziskus eine Reformidee hat, setzt er sie nicht einfach um, sondern er betet darüber. Er horcht darauf, was diese Idee innerlich mit ihm macht – das ist typisch für die Spiritualität des heiligen Ignatius. Selbst wenn der Papst einen genialen Gedanken hat, von dem er selbst ganz beeindruckt ist, setzt er sich erst hin und wartet auf eine geistliche Bestätigung. Er betet darüber, und wenn ihn die Idee am Ende innerlich leer zurücklässt, statt ihn zu bestärken, merkt er, dass es nicht der Wille Gottes war. Insofern ist Unterscheidung durchaus ein Weg, um Dinge zu entscheiden. Aber eben ein Weg, der nicht die Klugheit eines Vorschlags in den Mittelpunkt stellt, sondern die Spiritualität und den Willen Gottes.«

Damit ist sehr dicht auf den Punkt gebracht, wie der Papst tickt. Dass er betet, dass er Entscheidungen meditierend vorbereitet, erwägt – das sollte eigentlich nicht überraschen. Noch weniger, dass er dafür die ihm aus seiner Ordenstradition vertrauten Instrumente benutzt.

Ein Rückblick auf die Familien- und die Amazonassynode

Und Spadaro gibt ein konkretes Anwendungsbeispiel dafür – befragt, was das für die von Franziskus so sehr favorisierte Synodalität bedeutet: »Wenn der Papst sieht, dass eine Entscheidung nach einer innerlichen Unterscheidung reif ist, bringt er sie auch auf den Weg und macht sie sich zu eigen. So ist es zum Beispiel in ›Amoris laetitia‹. Es gibt aber auch Situationen, in denen er vielleicht gemerkt hat, dass es auf der Synode zwar eine sehr gute Diskussion über einige Reformideen gab, dass aber die wirkliche Unterscheidung noch gefehlt hat. In diesen Fällen würgt er zwar nichts ab und schließt nichts aus. Er sagt: Gehen wir weiter voran, denken wir weiter darüber nach! Aber er fällt keine endgültige Entscheidung. Eben weil er fühlt, dass die Unterscheidung noch nicht gereift ist: Die Synode hat ihn noch nicht in die Lage versetzt, zu unterscheiden und den Willen Gottes in der jeweiligen Angelegenheit zu verstehen. So war es zum Beispiel mit den Viri probati auf der Amazoniensynode.«

Diese Lesart hilft, um den Papst zu verstehen – und sich selbst vor Enttäuschungen zu bewahren, die auf falschen Erwartungen beruhen. Spadaro ergänzt: »Es gibt eine allzu funktionalistische Vorstellung von einer Synode, die nur auf das Erreichen von Zielen ausgerichtet ist: Wir gehen zur Synode, um diese oder jene Reform durchzukriegen! Diese Einstellung ist bereits ideologisch. Zur Amazoniensynode sind zwei Parteien angereist. Die eine wollte verheiratete Priester, die andere war dagegen, und dann haben sie miteinander gestritten. Es war eine großartige Diskussion. Aber es war keine Unterscheidung. Für den Papst ist das zu wenig.«

Auch wenn ich mir da und dort ein anderes Tempo wünschen würde und andere, schnellere Entscheidungen: So denkt, fühlt – und handelt dieser Papst. »Die missionarische Umgestaltung der Kirche« – Kapitel 1 des Apostolischen Schreibens »Evangelii gaudium« (November 2013) – hat mit dem »Weg einer pastoralen und missionarischen Neuausrichtung« zu tun, »der die Dinge nicht so belassen darf, wie sie sind« (EG 25).

Das ist Franziskus‘ Sicht von Reform. Reformpotential – nach oben hin offen. Auf die letzte Interview-Frage (»Wird ein künftiges Konklave einen Kandidaten wählen, der den Kurs von Franziskus fortsetzen will? Einen Franziskus II.?«) antwortet der 1966 in Messina geborene Jesuit (salomonisch): »Der Papst hat sehr viel gesät in den letzten Jahren. Sein Nachfolger wird das nicht ignorieren, er wird nicht zurückkönnen. Er wird weiter vorangehen.«