Am 1. Dezember erscheint die englische Ausgabe in New York, am 4. Dezember die deutsche Übersetzung bei Kösel (München) von der Penguin Random House Verlagsgruppe. Stellenweise bleibt einem fast der Mund offen, was da alles zu lesen ist! Die Lektüre packt. Ja, sie nimmt gefangen. Es ist zweifellos das persönlichste Buch, das der Bischof von Rom bisher veröffentlicht hat, entstanden im Gespräch mit dem britischen Journalisten Austen Ivereigh – der zwei, leider nicht ins Deutsche übersetzte namhafte Papstbücher geschrieben hat: 2014 »The Great Reformer: Francis and the Making of a Radical Pope« und 2019 »Wounded Shepherd: Pope Francis and His Struggle to Convert the Catholic Church«.
Ivereigh erklärt am Ende des Buches auf dreieinhalb Seiten, wie aus den »Ideen« und »Geistesblitzen« des Papstes ein Text entstand, wie der Austausch ablief, wie Überarbeitungen erfolgten, wie Ergänzungen dazu kamen. Ausschlaggebendes Motiv war eine von Papst Franziskus nach Ostern 2020 eingesetzte Kommission des Vatikans: Sie sollte Experten aus aller Welt zur Nach-Covid-Zukunft konsultieren: Wie geht es nach Covid-19 weiter? So wie bisher? Anders? Und wie? »Die Grundregel einer jeden Krise ist, dass du nicht genau so herauskommst, wie du hineingegangen bist«: So beginnt Franziskus seine von Juni bis August 2020 dauernden Gespräche und seine Korrespondenz mit Ivereigh.
Träume und Visionen eines Papstes
»Wage zu träumen«: Das klingt – auf den ersten Blick vielleicht – wie ein Titel aus der uferlosen Lebenshilfeliteratur. So à la Phil Bosmans und seinen beliebten Erfolgstiteln. Ist der Papst also unter die Träumer gegangen? Träumer gelten schnell als Spinner, als Utopisten. Als Fälle für den Psychiater. Heribert Prantl (»Wie sich Papst Franziskus die Welt nach Corona erträumt«) begann seine Kolumne mit den Worten: »[I]m Vatikan sitzt ein realistischer Träumer«.
Träume brauchen wir. Visionen auch. In der Politik genauso wie in der Kirche. Ungemein direkt ist Franziskus auf 177 Seiten, verblüffend ehrlich, authentisch, selbstkritisch und humorvoll auch – und eben visionär, dazu hoch politisch. Er überzeugt – auch wenn ihn viele längst als »Ankündigungspolitiker« abgeschrieben haben und alles für reine Symbolpolitik halten. Wie man sich täuschen (lassen) kann!
Und warum nehme ich dem ehemaligen Erzbischof von Buenos Aires, dem ersten Jesuitenpapst der Geschichte, ab, was er denkt und schreibt? Er ist einfach echt und natürlich, er beschönigt nichts – und er lässt hier tief in die eigene Seele blicken.
Seine Kritik, seine Beobachtungen und seine Wahrnehmungen werden vermutlich als penetrant empfunden werden: (nach außen) als Sticheleien, als Einmischung, als Grenzüberschreitung, als Anmaßung; oder (nach innen) als Nestbeschmutzung. Man hört Franziskus aus jeder einzelnen Seite heraus reden. Und er wendet sich immer wieder direkt an seine Leser.
Wie Kirche auch sein kann
Man wird das Gefühl nicht los: Das also könnte auch Kirche sein – eine weltweit präsente Akteurin, die mitmischt und mithalten kann mit den großen Think Tanks, eine visionäre Vordenkerin, eine solidarische Gemeinschaft, die um den Einzelnen besorgt ist, besonders um die Verlierer der Modernisierungs- und Globalisierungsprozesse. Eine Kirche also, die da ist für die Menschen und sich einsetzt, besonders für diejenigen, die am Rand stehen oder an den Rand gedrängt wurden, die marginalisiert, abgeschrieben, abgeschoben, ausgestoßen werden, diejenigen, die keine oder keine mächtige Lobby haben. All das traut man der Römisch-katholischen Kirche, die sich gern der älteste Global Player nennen lässt, angesichts permanenter Skandalmeldungen – längst nicht nur in Sachen sexueller Missbrauch – eigentlich gar nicht mehr zu.
Diesem Papst schon! Und man hat genau keine unverbindlichen »päpstlichen Plaudereien« vor sich, wie einzelne flapsige Äußerungen oder der Stil von Franziskus überhaupt gern despektierlich abgewertet – und damit relativiert werden. Seine Überlegungen sind meilenwert entfernt von spiritueller Erbaulichkeit oder seichter Phrasendrescherei, wie man sie aus kirchlichen Führungsetagen auch kennt. Hier hat man, ausgelöst durch die Corona-Krise, die Vision einer anderen Welt vor sich: Wie es auch sein und dass es auch anders laufen könnte.
Und Franziskus bleibt dabei sich selbst treu. Er schreibt bisherige »Provokationen« fort und kommentiert damit – ungemein aufschlussreich – wichtige Schreiben wie »Evangelii gaudium«, seine indirekte »Regierungserklärung“ vom November 2013, die Nachsynodalen Schreiben »Amoris laetitia« (März 2016), »Christus vivit« (2019) und »Querida Amazonia« (2019) oder seine beiden Sozialenzykliken »Laudato si’« (Mai 2015) und »Fratelli tutti« (Oktober 2020). Man merkt dem Text an, dass er parallel zur zweiten Sozialenzyklika entstanden ist.
Vorabdrucke lassen ahnen …
Wie (politisch) brisant das Buch ist, zeigten Vorabdrucke in den italienischen Tageszeitungen »La Repubblica« und »La Stampa« am 23. November: Einen Tag später schon wies ein Sprecher des chinesischen Außenministeriums die Formulierung von den »armen Uiguren« als »völlig haltlos« zurück. Sie werden in einem Atemzug mit anderen verfolgten Minderheiten wie den Rohingyas, den Jesiden oder verfolgten Christen in Pakistan und Ägypten erwähnt.
Der Papst will Nähe zeigen – auch jenseits dessen, was man Political Correctness nennt, um dann aus diplomatischen Rücksichtnahmen zu schweigen. Franziskus geht auf die #MeToo-Bewegung ein. Er kommt gleich dreimal auf die Tötung des Afroamerikaners George Floyd bei einer Polizeikontrolle in den USA zu sprechen, die weltweit Proteste gegen Rassenungerechtigkeit auslöste.
»Wir müssen unsere Wirtschaft neu entwerfen, sodass sie jedem Menschen Zugang zu einem Leben in Würde gibt und gleichzeitig die Natur schützt und regeneriert«: Ähnliche Aussagen eckten bereits in »Evangelii gaudium« oder »Laudato si’« an und trugen Franziskus die Verachtung von Wirtschaftskreisen ein. Ein Vorabdruck in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (29. Nov. 2020) brachte Wirtschaftspassagen und pickte ein pikantes Detail heraus, über das in Parlamenten debattiert wird: »Der Papst und das Geld. In seinem neuen Buch beschreibt Papst Franziskus, wie er sich eine bessere Wirtschaft vorstellt: mit Würde für alle und einem bedingungslosen Grundeinkommen.«
(Päpstliche) Reizthemen
Dass in den USA der Ankauf von Schusswaffen einen neuen Rekord erreicht hat und der Schusswaffengebrauch ein Tabu ist, allein diese Erwähnung – die eine Tatsache ist – wird dem Papst unter amerikanischen Katholiken keine Freunde bringen.
Die Vergiftung von Flüssen und die Zerstörung des Regenwaldes kommen in ein und demselben Satz vor wie Abtreibung, Euthanasie und Todesstrafe. Man muss kein Prophet sein, um sich auszumalen, aus welcher Richtung deswegen katholischerseits Proteststürme erfolgen werden. Der Papst verliert sich gerade nicht im Klein-Klein innerkatholischer Grabenkämpfe. Er hat eine globale Sicht, jenseits konfessioneller oder gar religiöser Grenzen. Aber wer so spricht, setzt sich der Gefahr aus, dass die Meinung aufkommt, die Kirche sei eine Partei oder eine NGO. Paradoxerweise warnt Franziskus immer wieder vor solchen Ansichten. Plastikmüll in den Meeren ist für ihn ein Thema, das er mit der anstehenden »ökologischen Bekehrung« verknüpft: »Das Grüne und das Soziale gehen Hand in Hand.«
Auch innerkirchlich wird »Wage zu träumen« fraglos wieder massive Kritik, wenn nicht sogar Widerstand hervorrufen, wie es in den letzten Jahren ja bereits üblich geworden ist von Kreisen, die Franziskus direkt oder durch die Blume jegliche theologische Kompetenz absprechen oder ihm direkt vorwerfen, die Lehre der Kirche nicht mehr authentisch wiederzugeben – wie zuletzt bei den aus anderen Kontexten zusammengeschnittenen Aussagen über Homosexualität und die juristische Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften in dem Dokumentarfilm des russisch-amerikanischen Regisseurs Jewgeni Afinejewski, das zu einem medialen Fiasko geriet.
Persönliche »Covid«-Erfahrungen
Franziskus schöpft ausgiebig aus dem Fundus seiner Erfahrungen als Erzbischof der Millionenmetropole Buenos Aires (1998 bis 2013). Er lässt dabei aber auch tief in die eigene Seele blicken.
Er nennt drei »Covids« aus dem eigenen Leben, die ihn prägen: die lebensbedrohliche Erkrankung als 21-jähriger, die zur Teilentfernung eines Lungenflügels führte (»Covid der Krankheit«: »Ich kann mitfühlen, wie es Menschen geht, wenn sie mit dem Coronavirus am Beatmungsgerät um Atem ringen«); der »freiwillige« Studienaufenthalt in Deutschland im Jahr 1986, als 50-jähriger, nach seinen Amtsjahren als Provinzial der argentinischen Jesuiten und Rektor eines großen Kollegs (»Covid der Vertreibung«: »Aber dort fühlte ich mich völlig fehl am Platz«); und die Jahre 1990 bis 1992 als Seelsorger in Córdoba, der zweitgrößten Stadt Argentiniens (»Covid der Reinigung«) – eine Zeit der Läuterung, die er präzise datiert: ein Jahr, zehn Monate, dreizehn Tage, »die Quittung dafür«, dass er »damals sehr harsch sein« konnte.
Damals las Jorge Mario Bergoglio »alle 37 Bände von Ludwig Pastors Geschichte der Päpste«. Die deutsche Originalausgabe umfasst 16 Bände (in 22 Teilbänden), die spanische Übersetzung über die doppelte Anzahl). Er konnte nicht ahnen, dass er einmal selber in dieses Amt gelangen würde: »Es war, als ob Gott mich mit einer Art Impfung vorbereitet hätte. Wenn du einmal diese Papstgeschichte kennst, dann kann dich wenig von dem, was im Vatikan und in der Kirche heute passiert, noch schockieren. Es hat mir sehr geholfen!« Entwaffnend ehrlich: »Ich muss mich bei der Leitung der Kirche davor hüten, in dieselben Fehler zu verfallen, die ich als Ordensoberer hatte.«
Persönlichen Krisenzeiten wurden und werden für Franziskus zu Lernzeiten. Ob es fruchtet, dass er angesichts der Corona-Pandemie die Welt beschwört, in sich zu gehen? Franziskus gibt sich überzeugt: »Dies ist ein Augenblick, große Träume zu träumen, unsere Prioritäten zu überdenken – was wir wertschätzen, was wir wollen, was wir anstreben – und uns zu entschließen, in unserem alltäglichen Leben das zu tun, wovon wir geträumt haben.« Und: »Mich erfüllt das mit der Hoffnung, dass wir mit einer besseren Zukunft aus dieser Krise herauskommen. Aber wir müssen klar sehen, gut wählen und richtig handeln.«
Sehen – Wählen – Handeln
Dieser Drei-Schritt macht auch die drei Kapitel aus: »Eine Zeit zum Sehen« (19-65), »Eine Zeit zum Wählen« (69-122) und »Eine Zeit zum Handeln« (126-170). Vielleicht ist es auch das Alter des Papstes, das ihn prekäre Situationen glasklar sehen lässt. Und es klingt schon fast wie ein Vermächtnis: »Denn dort bin ich angelangt: am Ende meines Lebens.« Er warnt vor »billigem Trost«.
Romano Guardini wird immer wieder als Inspirator erwähnt: »Wenn du dich nicht öffnest, kannst du nicht unterscheiden. Daher rührt meine Allergie gegen Moralismus und andere -ismen, die alle Probleme nur mit Vorschriften, Gleichungen und Regeln zu lösen suchen.«
Neben Guardini trifft man auf John Henry Newman oder Edith Stein, aus dem ersten Jahrtausend auf Theologen wie Vinzenz von Lérins oder Dorotheus von Gaza. Hölderlin, Haydns Schöpfung, Schriftsteller wie Chesterton, Dostojewski, Jorge Luis Borges oder Luis Francisco Bernárdez kommen vor. Wirtschaftswissenschaftlerinnen wie Kate Raworth oder Mariana Mazzucato sind erwähnt. »In einer Krise wird unser Funktionalismus erschüttert und wir müssen unsere Rollen und Gewohnheiten verändern, um aus der Krise als bessere Menschen hervorzugehen.« Sind das nur Predigtworte?
Es klingt fast wie ein Testament: »In einer Krise wie der Samariter zu handeln bedeutet, sich von dem, was ich sehe, berühren zu lassen, wissend, dass das Leiden mich verändern wird. Wir Christen nennen das das Kreuz aufnehmen und annehmen. Das Kreuz anzunehmen, in der Zuversicht, dass das Kommende neues Leben sein wird, gibt uns den Mut, das Wehklagen und den Blick zurück aufzugeben. So können wir aufbrechen, anderen dienen und so Veränderung geschehen lassen, die nur durch Mitgefühl und Dienst am Menschen entstehen kann.«
Auf sieben Seiten finden sich geradezu sensationelle Aussagen über Frauen, die komplexe Situationen »besser sehen« und »schneller reagieren« könnten. Der Papst warnt davor, sie zu klerikalisieren und auf »Funktionen« zu reduzieren. Kein Weiheamt also. Aber: Frauen sind für ihn nicht nur »viel bessere Verwalter«, sondern: »Sie verstehen Prozesse besser und wissen, wie man Projekte vorantreibt.« Als Erzbischof wie als Papst hat er Frauen in hohe Positionen gebracht. Ob man das wertschätzen kann, angesichts der Weigerung, Weiheämter für Frauen zu öffnen? Man erfährt auch nebenbei, warum er auf der Sondersynode über Amazonien nicht darauf oder auf die Frage der »viri probati« eingegangen ist.
Synodalität à la Franziskus
»Unter dem Banner der Restauration oder der Reform«, beklagt Franziskus, »werden lange Reden gehalten und endlose Artikel geschrieben, es werden doktrinäre Klarstellungen geboten und Manifeste verfasst, die wenig mehr sind als die fixen Ideen von kleinen Gruppen. In der Zwischenzeit geht das von Gott zusammengerufene Volk in den Fußspuren Jesu vorwärts, nicht blind für die Fehler der Kirche, aber glücklich, Teil Seines Leibes zu sein, die eigenen Sünden bekennend und um Barmherzigkeit bittend.«
Franziskus hält große Stücke auf das Volk Gottes und seinen Glaubenssinn. Beratung heißt für ihn nicht, nach der Art eines Parlamentes mit wechselnden Mehrheiten zu arbeiten (»Das ist die Version der geistlichen Weltlichkeit«). Für ihn geht es um einen geistlichen Prozess. In der Kirche, für die großen Fragen, setzt er auf das vielzitierte Instrument Synodalität. Für 2022 ist eine Bischofssynode dazu angekündigt. Synodensekretär ist der neue Kardinal Mario Grech. Es komme an auf »respektvolles Aufeinander-Hören, frei von Ideologie und vorherbestimmten Agenden« an: »Das Neue bedeutet manchmal, umstrittene Fragen durch Überfließen zu lösen.«
»Überfließen« – griechisch perisseuo: Das ist ein wichtiges Schlüsselwort. Und es war der »Ausweg« aus verkrusteten Debatten auf den Familiensynoden 2014 und 2015, angestoßen u. a. durch den Wiener Erzbischof, Kardinal Christoph Schönborn, als Dominikaner ein Kenner des Thomas von Aquin. »Lehre und Tradition« will Franziskus »nicht mit den Normen und Methoden der Kirche« verwechselt wissen – eine wichtige Unterscheidung.
Wider die Globalisierung der Gleichgültigkeit
»Wenn wir besser aus dieser Krise herauskommen wollen«, so Franziskus, »müssen wir die Idee zurückgewinnen, dass wir als Volk ein gemeinsames Ziel haben«: Solidarität ist für ihn mehr als Großzügigkeit. Ein von Profit getriebener Markt entkopple Ethik und Wirtschaft voneinander. Franziskus propagiert wieder die Ethik des barmherzigen Samariters – auch für die Politik.
Mit 17 hat man noch Träume. Aber mit über 80? Papst Franziskus vollendet am 17. Dezember sein 84. Lebensjahr. In »Wage zu träumen« erweist er sich als agil, jung, aufgeschlossen, neugierig. Er will sich nicht abfinden mit der vielzitierten »Globalisierung der Gleichgültigkeit« oder mit dem »Menefreghismo« – im Blick auf globale wie lokale Probleme achselzuckend zu sagen: »Und? Was hat das mit mir zu tun? (it. che me ne frega? / span. y a mí qué?)«.
Sklaverei und Todesstrafe, Korridore der Humanität – die Alternativen wirken holzschnittartig: »Triumpf des Stärkeren und Wegwerfkultur – oder Barmherzigkeit und Sorge«? Oder: »Menschen oder Ziegelsteine: Es ist Zeit zu wählen.« Auch der Behauptung eines Clashs zwischen Christentum und Islam erteilt Franziskus eine Absage: »Es gibt keinen Zusammenstoß … außer in den Köpfen derjenigen, die von der Behauptung solchen Zusammenstoßens profitieren«.
Von den Bildern zum Programm
»Wage zu träumen« erscheint fast zeitgleich auf Englisch, Spanisch, Französisch, Italienisch, Brasilianisch und Deutsch. Den Auftakt macht Simon & Schuster (»Let us dream: The Path to A Better Future«). »Mit Zuversicht aus der Krise«, lautet der deutsche Untertitel. Damit ist von Anfang an klar, dass Franziskus die Corona-Pandemie nutzen will, um seine Agenda unters Volk zu bringen, und der Krise nicht nur »mit einem Achselzucken« zu begegnen. Er spricht gleich eingangs von »den anderen unsichtbaren Viren, vor denen wir uns schützen müssen«.
Die Bilder prägten sich ein, und der Papst wirkte fast wie Don Quichote bei seinem Kampf gegen die Windmühlen: der fast menschenleere Petersplatz am 27. März, Abenddämmerung und Nieselregen, der in strömenden Regen überging. Die Bilder gingen um die Welt. Und wurden zum Sinnbild für die neue Normalität inmitten von Krise und Lockdown. Ohnmächtig wirkte Franziskus in der minimalistisch inszenierten Andacht, an deren Ende er mit der Monstranz der Welt den außertourlichen »Urbi et orbi«-Segen spendete, den es sonst nur zu Weihnachten und an Ostern gibt.
Es waren großartige Bilder. Neben diese Bilder stellt sich nun ein Programm, und man merkt: Der Papst hat diese Monate der Pandemie genutzt, um nachzudenken.
Er appelliert. Er beschwört. Er mahnt. Und er ermutigt. Corona ist für Franziskus, anders als für evangelikale Christen, keine Strafe Gottes, wohl aber eine Zeit der Prüfung. Oft kommt er auf Propheten zu sprechen, besonders auf Jesaja. Franziskus lädt in seinem Mutmach- und Trostbuch dazu ein: »Komm, lass uns darüber sprechen. Wagen wir es zu träumen.«
Überhören und übersehen lässt sich dieses Plädoyer des Papstes eigentlich nicht. Abtun kann man es natürlich. Es kommt darauf an, wo er und welche Mitstreiter er findet. Die sucht er nicht nur innerhalb der Kirche. Man wünscht ihm, dass er damit erfolgreich ist. Mit seinem Buch »Wage zu träumen« setzt er Signale nach innen wie nach außen: Die Rede von einer »Zeitenwende« wirkt auf mich nicht übertrieben. Das ist keine Rhetorik. Oder billige Zivilisationskritik, nur weil von Selfie-Kultur bzw. -Unkultur die Rede ist.
Eines noch: Bernd Hagenkord SJ hat das Buch ins Deutsche übersetzt. Welch‘ Glück – und welche Glanzleistung!