Die Meldung schlug ein wie eine Bombe, weit über München, weit über Deutschland, ja über Europa hinaus: Kardinal Reinhard Marx hat dem Papst seinen Rücktritt als Erzbischof von München und Freising angeboten. Sein Rücktrittsgesuch (datiert mit 21. Mai, öffentlich gemacht mit Zustimmung des Papstes heute, am 4. Juni) beeindruckt mich ungemein. Hut ab! Sowas hätte man sich eher von Kardinal Woelki in Köln erwartet.

Gleichzeitig bedauere ich diesen Schritt. Und wünsche mir, dass Papst Franziskus zum Erzbischof von München und Freising sagt: »Rücktritt abgelehnt, bleiben Sie bitte, ich brauche Sie noch!«

»Wir haben versagt.« Oder: Ich?

Warum wünsche ich mir das? Weil Kardinal Marx ehrlich ist. Radikal ehrlich. Weil er das Evangelium ins Spiel gebracht hat, anstatt an seinem Amt zu kleben. »Es ist mit dem Evangelium noch lange nicht ausgereizt«, sagte er in seiner Presseerklärung am 4. Juni 2021 um 14 Uhr.

Wiederholt hat Marx eingeräumt, dass er Fehler gemacht hat. Zunächst Weihbischof in Paderborn, war er seit 2001 Bischof von Trier, seit 2008 Erzbischof von München und Freising. Sind mit dem Rücktrittsgesuch 42 Priester- und 25 Bischofsjahre annulliert? Mitnichten.

Marx ist seit 2013 Mitglied des von Papst Franziskus unmittelbar nach seiner Wahl neu eingerichteten Kardinalsrates, seit 2014 auch Koordinator des vatikanischen Wirtschaftsrates. Er ist in verschiedenen vatikanischen Kongregationen tätig. Er war Präsident der ComECE (Kommission der Bischofskonferenz der Europäischen Gemeinschaft) und von 2014 bis 2020 Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz. Das Projekt des Synodalen Weges hat er initiiert. Ein Schwergewicht also, in vielerlei Hinsicht.

Kirche »an einem toten Punkt«

Die Frage nach einem Amtsverzicht bewegt Marx schon länger. Die MHG-Studie hat bei ihm eingeschlagen. Die Überlegung, was das für ihn persönlich bedeutet: »Wir haben versagt.« Marx sagt jetzt, nicht zum ersten Mal: Ich habe versagt! Ich will deswegen ein Zeichen setzen! Keine Fake-News: Gespielt ist das nicht. Und weit fern von der üblichen bischöflichen Betroffenheitsrhetorik, die sich durch ständige Wiederholung selbst entwertet. – Marx hat, nachdem er länger mit sich gerungen hat (in jesuitischer Terminologie: »Unterscheidung der Geister« betrieben hat), mit dem Papst gesprochen. Der erbat Bedenkzeit. Franziskus will darüber beten und nachdenken. Jetzt bat er Marx, das Rücktrittsgesuch vom 21. Mai 2021 zu veröffentlichen. Vorerst bleibt er jedoch im Amt.

Das Bild, das Marx wählte, ist drastisch: Kirche sei an einem »toten Punkt« angelangt. Der Kardinal offenbarte, dass dieses Wort geliehen ist: von dem Jesuiten Alfred Delp. Der wurde am 2. Februar 1945 von den Nazis hingerichtet.

Wenn Kirche kein Raum der Hoffnung und der Heilung (mehr) ist, weil Menschen darin das glatte Gegenteil erfahren (haben), jahrzehntelang, nämlich Unheil: Dann verwirkt sich Kirche. Sie verrät das Evangelium. Marx hat das ernst genommen. Die eigene Karriere zählt für den 67-jährigen, der nach dem Kirchenrecht erst mit 75 seinen Rücktritt hätte anbieten müssen, nicht. Damit zeigt er, dass es nicht nur um juristische, sondern auch um moralische Verantwortung geht. Die hat er übernommen.

»Da geht der Falsche«

Theologisch gesprochen: Marx hat sich damit öffentlich als Sünder bekannt. Und genau deswegen hoffe ich, dass der Papst ihn im Amt belässt. »Aus der Krise lernen«, »Neuaufbruch«, »Erneuerung und Reform der Kirche«: Ginge das ohne ihn? Der Lotse will also von Bord. Vom Kommandoraum in den Maschinenraum? Braucht ihn die Kirche nicht auf der Brücke?

»Amtsmüde« oder »demotiviert« ist er ja nicht. ZdK-Präsident Thomas Sternberg zeigte sich tief erschüttert: »Da geht der Falsche.« Und meinte: „Ich hoffe auf sein bleibendes Engagement – in welcher Position auch immer.« Das tue ich auch. Ob der »tote Punkt« ein Wendepunkt werden kann, steht in den Sternen. Nachrufe auf Marx sind aber verfrüht.