Da sage noch einer: Gottes Mühlen mahlen langsam, die des Vatikans noch langsamer! Am 4. Juni hat Kardinal Marx mit Zustimmung des Papstes sein Rücktrittsgesuch als Erzbischof von München und Freising publik gemacht. Keine Woche später, am 10. Juni 2021, kam die Antwort aus Rom: Rücktritt abgelehnt!
Papst Franziskus beginnt seinen langen Brief mit den Worten: »Lieber Bruder, vor allem: Danke für Deinen Mut. Es ist ein christlicher Mut, der sich nicht vor dem Kreuz fürchtet, und der keine Angst davor hat, sich angesichts der schrecklichen Wirklichkeit der Sünde zu erniedrigen.«
»Wir haben es mit einer Katastrophe zu tun«
Und weiter: »Du sagst mir, dass Du einen Augenblick der Krise durchmachst, und nicht nur Du, sondern auch die Kirche in Deutschland. Die gesamte Kirche ist in der Krise wegen des Missbrauchs; ja mehr noch, die Kirche kann jetzt keinen Schritt nach vorn tun, ohne diese Krise anzunehmen. (…) Ich stimme Dir zu, dass wir es mit einer Katastrophe zu tun haben: der traurigen Geschichte des sexuellen Missbrauchs und der Weise, wie die Kirche damit bis vor Kurzem umgegangen ist. Sich der Heuchelei in der Art, den Glauben zu leben, bewusst zu werden, ist eine Gnade und ein erster Schritt, den wir gehen müssen. Wir müssen für die Geschichte Verantwortung übernehmen, sowohl als einzelner als auch in Gemeinschaft. Angesichts dieses Verbrechens können wir nicht gleichgültig bleiben. Das anzunehmen bedeutet, sich der Krise auszusetzen. Nicht alle wollen diese Tatsache annehmen, aber es ist der einzige Weg. (…)
Du sagst in Deinem Brief zu Recht, dass es uns nichts hilft, die Vergangenheit zu begraben. Das Schweigen, die Unterlassungen, das übertriebene Gewicht, das dem Ansehen der Institutionen eingeräumt wurde – all das führt nur zum persönlichen und geschichtlichen Fiasko (…). Es gefällt mir, wie Du den Brief beendest: ›Ich bin weiterhin gerne Priester und Bischof dieser Kirche und werde mich weiter pastoral engagieren, wo immer Sie es für sinnvoll und gut erachten. Die nächsten Jahre meines Dienstes würde ich gerne verstärkt der Seelsorge widmen und mich einsetzen für eine geistliche Erneuerung der Kirche, wie Sie es ja auch unermüdlich anmahnen‹.
»Mach weiter«
Und genau das ist meine Antwort, lieber Bruder. Mach weiter, so wie Du es vorschlägst, aber als Erzbischof von München und Freising. Und wenn Du versucht bist, zu denken dass dieser Bischof von Rom (Dein Bruder, der Dich liebt), indem er Deine Sendung bestätigt und Deinen Rücktritt nicht annimmt, Dich nicht versteht, dann denk an das, was Petrus im Angesicht des Herrn hörte, als er ihm auf seine Weise seinen Verzicht anbot: ›Geh weg von mir, denn ich bin ein Sünder‹ – und die Antwort hörte ›Weide meine Schafe‹.«
Das ist sie: »Unterscheidung der Geister«, wie sie Kardinal Marx angestellt hat. Und wie sie Papst Franziskus angestellt hat. Fehlte noch, dass der Papst Marx vorschlägt, er solle Jesuit werden! Nach dem Rücktrittsangebot ist sicher anders als davor – auch als Erzbischof. Acht Jahre bleiben noch bis zum Erreichen der Altersgrenze.
Ein Freund fragte mich soeben: Muss dieser Vorgang nicht »dem einfachen Kirchenvolk« erklärt werden? Eine Show war das nicht! Hier ist einer in sich gegangen, hat nachgedacht, gebetet, meditiert. Und das tat auch der Papst. Und kam zu einer anderen Schlussfolgerung als Marx. Dahinter stecken auch die Erfahrungen von Papst Franziskus mit »Trost« und »Misstrost«, wie er sie in seinen »Lettere della tribolazione« von 2019 (dt. Übersetzung 2020: Briefe in Bedrängnis) festgehalten hat.
»Nicht einfach zur Tagesordnung übergehen«
Marx selber zeigte sich am Nachmittag dieses Tages überrascht: »Die Antwort des Heiligen Vaters hat mich überrascht. Ich habe nicht damit gerechnet, dass er so schnell reagieren würde und auch seine Entscheidung, dass ich meinen Dienst als Erzbischof von München und Freising weiter fortführen soll, habe ich so nicht erwartet. Ich bin bewegt über die Ausführlichkeit und den sehr brüderlichen Ton seines Briefes und spüre, wie sehr er mein Anliegen versteht und aufgenommen hat.
Im Gehorsam akzeptiere ich seine Entscheidung, so wie ich es ihm versprochen habe. Das bedeutet für mich und unsere gemeinsame Arbeit im Erzbistum München und Freising aber auch, zu überlegen, welche neuen Wege wir gehen können – auch angesichts einer Geschichte des vielfältigen Versagens –, um das Evangelium zu verkünden und zu bezeugen. (…) Ich empfinde diese Entscheidung des Papstes als große Herausforderung. Danach einfach wieder zur Tagesordnung überzugehen, kann nicht der Weg für mich und auch nicht für das Erzbistum sein.«
Wortlaut des Papst-Briefes / Bolletino quotidiano del 10.06.2021 (Sala Stampa della Santa Sede)