In seinem Rücktrittsgesuch als Erzbischof von München und Freising an Papst Franziskus vom 21. Mai, öffentlich gemacht am 4. Juni 2021, spricht Kardinal Reinhard Marx von einem »toten Punkt«, an dem die Kirche in Deutschland angelangt sei. In seinem persönlichen Pressestatement offenbarte er, dass das Wort von dem Jesuiten Alfred Delp (1907–1945) stammt: »Wir sind trotz aller Richtigkeit und Rechtgläubigkeit an einem toten Punkt.«
Der angebotene Amtsverzicht machte Schlagzeilen und gehörte zu den Top-News in sämtlichen Medien. Marx wurde von vielen Seiten innerhalb wie außerhalb der Kirche Respekt gezollt, auch von meinem Mitbruder und Vatikan-Experten Bernd Hagenkord in seinem Kommentar. Von einem »Wendepunkt« für die Kirche spricht Daniel Deckers (FAZ).
»Das Schicksal der Kirchen« (1944/45)
Der Satz findet sich in dem während der Berliner Haftzeit 1944/45 verfassten Text »Das Schicksal der Kirchen«. Zusammen mit dem Text »Die Orden«, ebenfalls ein prophetischer Text, habe ich ihn in der Dezemberausgabe 2017, meiner letzten als Chefredakteur der »Stimmen der Zeit« verantworteten Ausgabe, veröffentlicht. Delp war von Juli 1939 bis zur Aufhebung der Zeitschrift durch die Nationalsozialisten im April 1941 Mitglied der Redaktion. Er verband mit seiner Analyse die Hoffnung einer »Rückkehr zur Diakonie« – eine unbequeme Analyse, die heute so aktuell ist wie damals:
»Das Schicksal der Kirchen wird in der kommenden Zeit nicht von dem abhängen, was ihre Prälaten und führenden Instanzen an Klugheit, Gescheitheit, ›politischen Fähigkeiten‹ usw. aufbringen. Auch nicht von den ›Positionen‹, die sich Menschen aus ihrer Mitte erringen konnten. Das alles ist überholt. (…)
… und 2021
Die Kirchen scheinen sich hier durch die Art ihrer historisch gewordenen Daseinsweise selbst im Weg zu stehen. Ich glaube, überall da, wo wir uns nicht freiwillig um des Lebens willen von der Lebensweise trennen, wird die geschehende Geschichte uns als richtender und zerstörender Blitz treffen. Das gilt sowohl für das persönliche Schicksal des einzelnen kirchlichen Menschen wie auch für die Institutionen und Brauchtümer. Wir sind trotz aller Richtigkeit und Rechtgläubigkeit an einem toten Punkt. Die christliche Idee ist keine der führenden und gestaltenden Ideen dieses Jahrhunderts. (…)
Man soll deshalb keine großen Reformreden halten und keine großen Reformprogramme entwerfen, sondern sich an die Bildung der christlichen Personalität begeben und zugleich sich rüsten, der ungeheuren Not des Menschen helfend und heilend zu begegnen.«
Der komplette Text hier als pdf: