»Und wofür nun das alles? Wofür all die Missbrauchsgutachten, all das Aktenstudium, die Zeugenbefragungen, all die schmerzhaften Auseinandersetzungen? Wenn daraus am Ende nichts folgt außer einem mit Studien gut gefüllten Bücherregal? Wo bleibt im päpstlichen Handeln die Kategorie der moralischen Verantwortung? Müsste die nicht gerade in einer Institution wie der katholischen Kirche ganz weit oben stehen? Da können Bischöfe noch so oft vom ›toten Punkt‹ sprechen, in Predigten ›Kehrt um!‹ rufen ‒ wenn die Spitze nicht mitmacht, nützt das am Ende alles nichts. So wird aus der Kirche eine Institution des Glaubens, der keiner mehr glaubt.«

»Der keiner mehr glaubt«

So kommentiert Annette Zoch in der Süddeutschen Zeitung (25./26. Sept. 2021, Seite 4: »Auszeit und Bußzeit«) die Entscheidung des Papstes, Kardinal Woelki im Amt zu belassen. Es ist eine halbherzige Lösung. Vielleicht ja nur eine Zwischenlösung mit viermonatigem Ablaufdatum. Aber wie könnte eine Leitungsperson vollständig rehabilitiert werden, der gleichzeitig gravierende Fehler attestiert wurden?

Auch die beiden Weihbischöfe Puff und Schwaderlapp können weitermachen. Letzterer wird aber zunächst eine einjährige Auszeit in Afrika (Kenia) antreten und in der Seelsorge arbeiten. Woelki ist eine mehrmonatige geistliche Auszeit gewährt worden. Wie und ob er dann mit Beginn der Fastenzeit 2022 wieder die Leitung der Erzdiözese Köln übernimmt, die inzwischen Weihbischof Rolf Steinhäuser als Apostolischer Administrator verwaltet, ist offen.

»Weit über Köln hinaus«

Die Stellungnahme des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, spricht Bände: »Über diese Entscheidungen bin ich heute Morgen vom Apostolischen Nuntius in Kenntnis gesetzt worden. Auf unserer gestern beendeten Herbst-Vollversammlung waren mir diese Entwicklungen nicht bekannt.«

Das Timing wählte der Vatikan. Der Nuntius in Deutschland warnt in Zusammenhang mit dem Synodalen Weg ständig vor einem deutschen Sonderweg und ruft zu Gehorsam (oder Unterwerfung?) auf, zur Einheit mit dem Papst, gerade so als stehe eine Spaltung unmittelbar bevor. Nach Rom zu melden, wie solche Vorgänge hier wirken (müssen) ‒ das tut er offenbar nicht.

Der ebenso kluge wie tapfere Bischof Bätzing zur aktuellen Lage: »Rom ist sichtlich darum bemüht, mit diesen Entscheidungen Bewegung in die schwere Krisensituation im Hinblick auf das Vertrauen in die Führung des bischöflichen Amtes zu bringen, die das Erzbistum Köln schwer belastet und weit darüber hinaus auf die Kirche in unserem Land ausstrahlt. Die Entscheidung zu Kardinal Woelki erinnert mich in manchem an das römische Vorgehen im Blick auf meinen Amtsvorgänger in Limburg.«

»Ratlos und verletzt«

(Nur mehr?) Symbole zählen, Zeichen, Gesten. Was geschrieben, dekretiert, verfügt oder erklärt wird, geht durch diesen Filter und überzeugt oft nicht mehr.

Was meint der Papst? Was will und bezweckt er? Und wie kommt es an? Hier? In anderen Ortskirchen der Welt? Wie muss es ankommen, gelesen, verstanden werden? Man kann die Entscheidung von Franziskus drehen und wenden, wie man will, mindestens hierzulande kommt sie auch so an, wie Bätzing die von der Nuntiatur verlautete Erklärung kommentiert: »Was in der Note zur Entschiedenheit des Aufarbeitungswillens von Kardinal Woelki gesagt wird, trifft einerseits zu, andererseits lässt es angesichts der entstandenen Lage viele Betroffene ratlos und verletzt zurück.«

Ratlosigkeit und Verletzung: Glaubwürdigkeit wird nicht mehr allein durch Worte hergestellt, durch nachgeschobene Beteuerungen, die ohnehin meist nur durch Zuruf erfolgen. Es braucht auch Zeichen. Das wird à la longue bedeuten: Rücktritte.

Den Rücktritt eines Bischofs kann freilich allein der Papst annehmen. Heße bleibt im Amt, Woelki bleibt im Amt, das Rücktrittsangebot des Münchener Erzbischofs Marx hat Papst Franziskus ziemlich schnell zurückgewiesen.

Glaubenszuversicht: unerschöpflich und unverwüstlich?

Eine gepflegte Liturgie, persönliche Beziehungen zu einem überzeugenden Pfarrer, positive kirchliche Erfahrungen ‒ solche Erlebnisse an der Basis können über die Krise an der Spitze nicht mehr hinwegtäuschen. Denn an der Basis baden viele in der unmittelbaren Seelsorge Stehende die Endlos-Misere aus. Ihnen glaubt man ja (noch) vielleicht. Aber ihren »Hirten«?

Hamburg, Köln, München ‒ in früheren Jahren Limburg, Regensburg oder Augsburg: Das Austauschen von Personen, sprich: Bischöfen allein bewirkt noch keine nachhaltige Wende. Die Kirche steht und steckt in einem fundamentalen kulturellen Umbruch. Wer geht, wer austritt, gibt damit nicht automatisch seinen oder ihren Glauben auf. Hat aber die Nase voll.

Auszeiten sind Gelegenheiten zur Einkehr und zur Umkehr. Wohin führt das alles? Ich weiß es nicht. Aber ich bewundere diejenigen, die trotzdem an einem unverwüstlichen Glaubensoptimismus festhalten. Er speist sich auf der Zuversicht, dass der Kyrios seine Kirche nicht allein lässt. Auch jetzt nicht. Aber Kirche muss anders werden. Wir müssen auf die Propheten von heute hören. Es gibt sie.

Auch wenn es manche nicht mehr hören wollen oder können: Die Themen des Synodalen Wegs begegnen der Krise, weil sie neben dem individuellen Versagen einzelner systematisch bedingte Ursachen aufgespürt und benannt haben.

Zuflucht beim Mysterium?

Es führt kein Weg daran vorbei: Nur Transparenz und schonungslose Offenheit werden die Kirche retten. Das tut weh. Es ist, vermutlich, ein schmerzhafter Geburtsvorgang. Der dauert. Vertraute (Kirchen-)Bilder, aber auch vertraute Gesichter werden verschwinden (müssen). Wie würde wohl Romano Guardini heute seinen viel bemühten Satz gelesen wissen wollen: »Die Kirche erwacht in den Seelen«? Unmittelbar darauf lese ich: »Das will recht verstanden sein.« Seine Analyse 1921: »Die Kirche erschien vor allem als religiöse Zweck- und Rechtsgestalt. Das Mystische an ihr, was hinter greifbaren Zwecken und Einrichtungen steht, was sich im Begriff des Reiches Gottes, des mystischen Leibes Christi ausdrückt, wurde nicht mehr unmittelbar empfunden.«

Die Analyse ist heute gewiss eine andere. Die Umstände sind andere. Aber es gilt, 1921 ebenso wie 2021: »In der Kirche ragt die Ewigkeit in die Zeit herein.« Tröstet das?