»Es ist schon eine seltsame Zeit, in der Worte überraschen, verwirren und manchmal sogar empören, die doch die reinste Sprache Christi sind«: So kommentiert, damit endet der französische Journalist und Publizist Bernard-Henri Lévy seinen Artikel über den Besuch von Papst Franziskus auf Lesbos, wo er den Europäern wieder einmal ins Gewissen redete. Erschienen in der Süddeutschen Zeitung vom 8. Dezember 2021, Seite 13.

Das Mare Nostrum als Mare Mortuum

Lévys Frage lautet: Warum überrascht uns das hierzulande so, dass Papst Franziskus den Finger in die Wunde legt. Haben wir uns schlicht daran gewöhnt, dass der aus Argentinien stammende Bischof von Rom unaufhörlich vom Mittelmeer als einem »kalten Friedhof ohne Grabsteine« spricht, einem »Spiegel des Todes«? Für Franziskus sind Flüchtlinge und Migranten in Lévys Worten »keine Masse von namenlosen, zahlenlosen und gesichtslosen Invasoren, die uns in den gewalttätigen und aufhetzenden Versammlungen vor Augen geführt werden«, sondern »Individuen«.

An ihre Würde erinnert der Papst wieder und wieder – und fragt auf unbequeme Art und Weise, warum Europa so hilflos, so unbarmherzig, so kalt mit menschlichen Schicksalen umgeht.

Alibi für Gleichgültigkeit und Grausamkeit 

Lévy weiter: »Wir können nicht das ganze Elend der Welt aufnehmen?  Dieser Satz bedeutet nichts. Er ist ein Alibi für Gleichgültigkeit, Grausamkeit und Willfährigkeit. Denn niemand, nirgends, ist jemals mit ›dem Elend der ganzen Welt‹ konfrontiert worden. Es ist dieses Elend, das um Hilfe ruft«.

An die Sprache Jesu, an seinen Umgang mit Ausgegrenzten, an die Gesinnung Christi werden Christen − und nicht nur sie – erinnert. »Und das ist im Grunde genommen das Offensichtliche, an das dieser ebenso freundliche wie kühne Papst gegen alle Ideologen der ›Fluchtanreize‹ und des ›Bevölkerungsaustauschs‹ erinnert hat.« Der Mitbegründer der Nouvelle Philosophie als Anwalt, als Verteidiger der Klagen des Papstes! Wer hört auf Philosophen? Wer hört auf Propheten? Auf den Papst?

Die Ansprache von Franziskus im Aufnahmezentrum in Mytilene sei der geistlichen Lektüre empfohlen. In Anwesenheit der griechischen Staatspräsidentin bat er darum: »Brüder und Schwestern, ich bitte euch, lasst uns diesen Schiffbruch der Zivilisation stoppen!« (Zum Nachlesen hier klicken).

Lesenswert: Thomas Söding, Gott auf der Flucht. Der Papst erinnert auf Lesbos an das Weihnachtsevangelium der Befreiung, in: Christ in der Gegenwart 73 (2021/50), S.3-4.