»Ich sitze in meiner neuen Sedia gestatoria«: Franziskus und Jesuitenzeitschriften

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19. Mai 2022: In der Privatbibliothek des Apostolischen Palastes empfängt Papst Franziskus zehn Chefredakteurinnen und Chefredakteure europäischer Kulturzeitschriften der Jesuiten in Privataudienz: Lucienne Bittar (»Choisir«, Schweiz), José Frazão Correia SJ (Broteria, Portugal), Árpád Horvath SJ (A Szív, Ungarn), Ulf Jonson SJ (»Signum«, Schweden), Stefan Kiechle SJ (»Stimmen der Zeit«, Deutschland), Pawel Kosiński SJ (»Deon«, Polen), Robert Mesaros (»Vier a život«, Slowakei), Frances Murphy (»Thinking Faith«, Vereinigtes Königreich), Antonio Spadaro SJ (»La Civiltà Cattolica«, Italien) und Jaime Tatay SJ (»Razón y fe«, Spanien). Sie wurden vom Generaloberen der Jesuiten, Arturo Sosa SJ, begleitet.

Seinen Humor hat Franziskus offenbar nicht verloren: »Willkommen! Seht Ihr? Ich sitze in meiner neuen Sedia gestatoria« – so empfing der Papst acht Jesuiten, zwei Frauen und einen Mann in Anspielung auf den Rollstuhl, auf den er seit Wochen wegen anhaltender Knieprobleme vorübergehend angewiesen ist. Und kam gleich zur Sache: »Ich habe keine Rede vorbereitet. Wenn Ihr wollt, könnt ihr also Fragen stellen. Wenn wir einen Dialog führen, wird unsere Begegnung reicher sein.«

August / September 2013 – Mai / Juni 2022

Was Franziskus bei dieser Begegnung sagte, wie er auf Fragen, die gestellt wurden, antwortete, kann man jetzt nachlesen: Am 14. Juni 2022, um 10:30 Uhr, wurde die Begegnung zeitgleich auf den Webseiten dieser Jesuitenzeitschriften freigeschaltet. Ein kleiner Coup, wiederum, wenn auch keine Wiederholung der Sensation vom 19. September 2013, als das erste ausführliche Gespräch, das Franziskus seinerzeit (an drei Nachmittagen im August 2013) mit Antonio Spadaro SJ allein führte, veröffentlicht wurde.

Damals meinte ich noch, behaupten zu können: Dieser Papst ist kein Interviewtyp. Ich täuschte mich. Denn längst hat er erkannt, dass er in Interviews, auch wenn er da und dort reingelegt wurde, Dinge sagen kann, die vorher nicht nach allen Seiten abgestimmt sind, um nur ja keine Missverständnisse zu erzeugen – bis sie auf Allgemeinplätze zusammenredigiert sind.

Unterscheidung zählt!

Was erwartet Franziskus von Jesuitenzeitschriften? »Die Gesellschaft Jesu darf nicht einfach daran interessiert sein, abstrakte Ideen zu vermitteln. Vielmehr geht es darum, die menschlichen Erfahrungen durch Ideen und Überlegungen zu vermitteln: Erfahrung also. Ideen werden diskutiert. Eine Diskussion ist gut, aber für mich ist sie nicht ausreichend. Es ist die menschliche Realität, die einer Unterscheidung unterworfen wird. Die Unterscheidung ist das, was wirklich zählt. Die Aufgabe einer jesuitischen Publikation kann nicht nur darin bestehen zu diskutieren, sondern sie muss vor allem zur Unterscheidung führen, die sich im Handeln umsetzt. Und manchmal muss man, um zu unterscheiden, einen Stein werfen! (…) Das ist der Grundsatz, den ich euch sagen wollte und den ich euch empfohlen habe: dass die Realität der Idee überlegen ist, und deshalb müsst ihr Ideen und Überlegungen anstellen, die der Realität entspringen. Wenn man sich allein in die Welt der Ideen begibt und sich von der Realität entfernt, landet man in der Lächerlichkeit. Ideen werden diskutiert, die Realität wird durch Unterscheidung erkannt.«

Franziskus bleibt sich treu: Seit 1958 Jesuit, setzt er vor allem auf das, was er in Exerzitien, den Geistlichen Übungen des Ignatius von Loyola, gelernt hat: sauber zu unterscheiden – ein geistlicher Prozess, keine Fünfminutenangelegenheit!

Ich bin nicht pro Putin: Ukraine, Kyrill

Sehr ausführlich nimmt er zum Krieg in der Ukraine Stellung auf die Frage, die der polnische Jesuit stellte. Und verwahrt sich dabei, pro Putin eingestellt zu sein. Die Zeitschriften fordert er auf, die menschliche Seite des Angriffskrieges zu beleuchten: das Leiden der Kinder, die menschlichen Dramen. Die Brutalität und Grausamkeit der Söldnertruppen beschäftigen ihn.

Erneuerung? Das Zweite Vatikanische Konzil wird geknebelt …

Erneuerung tut der Kirche not. Immer. Und immer wieder. Die Wahrnehmung von Franziskus: »In der europäischen Kirche sehe ich mehr Erneuerung in den spontan entstehenden Dingen: Bewegungen, Gruppen, neue Bischöfe, die sich daran erinnern, dass ein Konzil hinter ihnen steht. Denn das Konzil, an das sich manche Hirten am besten erinnern, ist das Konzil von Trient. Und was ich sage, ist kein Unsinn.

Die Restauration ist gekommen, um das Konzil zu knebeln. Die Zahl der Gruppen von ›Restauratoren‹, von denen es zum Beispiel in den Vereinigten Staaten viele gibt, ist überwältigend. Ein argentinischer Bischof erzählte mir, dass er gebeten worden war, eine Diözese zu verwalten, die in die Hände dieser ›Restauratoren‹ gefallen war. Sie hatten das Konzil nie akzeptiert. Es gibt Ideen und Verhaltensweisen, die von einer Restauration herrühren, der das Konzil grundsätzlich nicht akzeptiert hat. Das Problem ist nämlich, dass das Konzil in einigen Bereichen noch nicht akzeptiert wurde. Es ist auch wahr, dass es ein Jahrhundert dauert, bis ein Konzil Wurzeln schlägt. Wir haben also noch vierzig Jahre Zeit, um es zu etablieren!«

Bemerkenswert die Äußerungen zum Generaloberen Pedro Arrupe SJ (1907–1991), der Jorge Mario Bergoglio seinerzeit zum Provinzial der argentinischen Jesuitenprovinz ernannt hat, und zu Papst Paul VI., den Franziskus einen Propheten nennt.

Der Synodale Weg in Deutschland und die Situation in Köln

Mit Spannung wird man die Bemerkungen zum Projekt des Synodalen Weges lesen: »Problematisch wird es, wenn der Synodale Weg von den intellektuellen, theologischen Eliten ausgeht und sehr stark von äußeren Zwängen beeinflusst wird. Es gibt einige Diözesen, in denen der Synodale Weg mit den Gläubigen, mit dem Volk, langsam beschritten wird. Ich wollte einen Brief über Ihren Synodenweg schreiben. Ich habe ihn selbst geschrieben, und ich habe einen Monat gebraucht, um ihn zu schreiben. Ich wollte die Kurie nicht einbeziehen. Ich habe es selbst gemacht. Das Original ist spanisch, die deutsche Version ist eine Übersetzung. Dort habe ich geschrieben, was ich denke.«

Bezug nimmt Franziskus auch auf die verzwickte Lage in Köln und Kardinal Woelki: »Ich habe ihn an seinem Platz gelassen, um zu sehen, was passieren würde, aber ich habe sein Rücktrittsgesuch in der Hand. Was geschieht, ist, dass es gibt viele Gruppen gibt, die Druck machen, aber unter Druck ist es nicht möglich, zu unterscheiden. Dann gibt es ein wirtschaftliches Problem, für das ich eine finanzielle Visitation in Erwägung ziehe. Ich warte, bis es keinen Druck mehr gibt, um zu unterscheiden. Die Tatsache, dass es unterschiedliche Standpunkte gibt, ist in Ordnung. Das Problem ist, wenn Druck entsteht. Das hilft aber nicht.«

Das aktuelle Problem der Kirche: die Nichtannahme des Konzils

Auch zu Schweden nimmt Franziskus Stellung, zur Frage, wie junge Menschen heute angesprochen werden können … Sensationell oder nicht, brisant sind seine Antworten und Überlegungen allemal. Und sie zeigen: Auch wenn ihn gesundheitliche Probleme aktuell in den Rollstuhl zwingen: Dieser Papst ist fit im Kopf, mehr, als manchen seiner Widersacher lieb sein kann. Durch und durch Jesuit, setzt er auf die »Unterscheidung der Geister«, die ihn auch davor bewahrt, zu schnell, einseitig oder parteiisch zu entscheiden. Was nicht heißt, dass er, wie gesehen, keine Machtworte spricht.

Bemerkenswert eine Art Resümee am Ende der Begegnung, mit dem der Papst noch einmal auf das letzte Konzil zu sprechen kommt: »Verzeiht, wenn ich zu weit ausgeholt habe, aber ich wollte die Themen der Nachkonzilszeit und Arrupe hervorheben, denn das aktuelle Problem der Kirche ist gerade die Nichtannahme des Konzils.«

Das komplette Gespräch hier.

2022-06-19T18:38:02+02:0014. Juni 2022|
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