9/11 und 10/11: Zwei markante Daten, vor sechzig Jahren.
Am 11. Oktober 1962 eröffnete Johannes XXIII. das Zweite Vatikanische Konzil mit einer fulminanten Rede. Einen Monat zuvor, am 11. September 1962, stimmte er Kardinäle, Bischöfe und das Volk Gottes auf das bevorstehende Ereignis ein.
Eine Radioansprache als Programmansage (9/11)
Die Radioansprache, die während seiner vom 10. bis zum 15. September im Torre San Giovanni dauernden Exerzitien ausgestrahlt wurde, mit denen er sich auf das kommende Ereignis persönlich vorbereiten wollte, trägt die ureigene Handschrift des Papstes. Mit den Vorbereitungsarbeiten zum Konzil gibt er sich dabei zufrieden. Die »Fülle an Themen für Lehre und Seelsorge« versteht er lediglich als »Anregungen« für die Konzilsväter, wie die Bischöfe genannt wurden, aber keineswegs eine bindende Vorgabe.
»Wir merkten, dass wir ein Konzil waren – und keine Klasse von Schuljungen, die man zusammengetrommelt hatte«, wird später ein US-amerikanischer Bischof sagen, damit auf Versuche der Römischen Kurie anspielend, das Konzil zu steuern, da es sich, nun einmal einberufen und nach dreijähriger Vorbereitungszeit begonnen, nicht mehr als zeremonielles Blitzkonzil (»concilio lampo«) inszenieren ließ, auf dem Bischöfe über längst vorbereitete Texte abstimmen und wieder abreisen.
In etlichen Passagen der Radioansprache vom 11. September (9/11) kommt das pastorale Hirtenverständnis des Papstes zum Ausdruck, der oft auch »Pfarrer der Welt« genannt wurde. Manche Gedanken waren offenbar von einem Konzilsplan des belgischen Primas und Erzbischof von Mechelen-Brüssel, Kardinal León-Joseph Suenens (1904–1996), inspiriert, den er im Juli in seiner Sommerresidenz in Castel Gandolfo empfangen hatte. Ins Auge sticht ein Ausdruck, der im gegenwärtigen Pontifikat von Papst Franziskus eine hohe Bedeutung hat: »Kirche der Armen«. Johannes XXIII. sieht die Kirche »als das, was sie ist und sein will, die Kirche aller, vornehmlich die Kirche der Armen (la chiesa dei poveri)«.
Klaus Wittstadt analysiert die Botschaft so: »Er beschäftigte sich wochenlang mit dem Redemanuskript, setzte bewusst und gezielt völlig andere Akzente als in den Schemata der Vorbereitungskommissionen. Die Radiobotschaft stellt einen Kontrapunkt dar zur theologischen und dogmatischen Starrheit der Texte, die in der Tradition römisch-kurialer Sprache entstanden waren. Ohne sich direkt gegen die Schemata zu wenden, reagiert Johannes XXIII. auf sie, indem er eine andere Perspektive für das Konzil eröffnet.«
Werbung für einen »Sprung nach vorn« (10/11)
In die (Kirchen-)Geschichte eingegangen ist die Ansprache des Papstes vom 11. Oktober 1962. Ihr Titel: »Gaudet Mater Ecclesia« – »Heute freut sich die Kirche, unsere Mutter!«
Helmut Krätzl (* 1931), der sich als Konzilsstenograph zur Verfügung stellte (für die in römischen Priesterkollegien geworben wurde), bekennt im Rückblick: »Ich erlebte eine ungeheure Begeisterung und die unglaubliche Ausstrahlung von Johannes XXIII. Im Trubel der Ereignisse erfasste ich den tiefen Inhalt der Eröffnungsrede damals noch nicht ganz.« Erst später erkannte er: »Sie ist wie eine Ouvertüre für das große bevorstehende Geschehen und zugleich trägt sie autobiographische Züge. Der Papst hat später wiederholt betont, dass in dieser Rede jedes Wort von ihm selbst geschrieben war.«
Der Augenzeuge erinnert sich lebhaft: »Vor allem hat mich ein Bild aus der Eröffnungsrede (…) beeindruckt, wo der Papst der Kirche wünscht, nicht nur Altes hervorzuholen, sondern ›einen Sprung nach vorn‹ zu machen, ›un balzo innanzi‹, wie es auf Italienisch hieß. Freilich hörte ich in St. Peter nur die von kurialen Latinisten verfasste Übersetzung, die dieses kraftvolle Bild blass erscheinen ließ: Statt ›Sprung vorwärts‹ musste der Papst lesen ›novo studio‹ lesen. Aber der italienische Ausdruck wollte mehr sagen und stammte ja direkt vom Papst. Wenn Johannes XXIII. später aus seiner Rede zitierte, verwendete er immer die italienische Fassung.«
Auf diese persönlichen Reminiszenz folgt der Hinweis auf sein viel beachtetes Buch: »Der ›Sprung vorwärts‹ sollte für mich schicksalshaft werden, denn 1998 schrieb ich das Buch ›Im Sprung gehemmt‹. Dadurch wurde ich im deutschen Sprachraum weithin bekannt. Es trug mir aber 2003 auch eine Vorladung nach Rom ein, wo man mich wegen meiner darin enthaltenen Kritik rügte.« Er wurde mit einem Dossier von 53 Seiten (!) Umfang konfrontiert, das sechs Expertisen theologischer Gutachter und vier Stellungnahmen der Glaubenskongregation enthielt. Kurienkardinal Joseph Ratzinger, der Chef der Glaubenskongregation, schlug ihm am Ende des Gesprächs vor: »Schreiben Sie jetzt etwas anderes!«
Johannes XXIII. sagte unter anderem: »Wir vertrauen unerschütterlich darauf, dass die Kirche durch dieses Konzil inspiriert an geistlichem Reichtum wachsen und so mit neuer Kraft gestärkt mutig in die Zukunft blicken wird. Es ist unsere feste Zuversicht: Durch ein angemessenes Aggiornamento und durch kluge Organisation der gegenseitigen Zusammenarbeit wird die Kirche erreichen, dass die einzelnen Menschen, die Familien und die Völker mit größerer Aufmerksamkeit die himmlischen Dinge betrachten.«
Der »springende Punkt« – und der Widerstand der »Unglückspopheten« (profeti di sventura)
Und weiter: »Der springende Punkt für dieses Konzil ist es also nicht, den einen oder anderen der grundlegenden Glaubensartikel zu diskutieren, wobei die Lehrmeinungen der Kirchenväter, der klassischen und zeitgenössischen Theologen ausführlich dargelegt würden. Es wird vorausgesetzt, dass all dies hier wohl bekannt und vertraut ist. Dafür braucht es kein Konzil. Aber von einer wiedergewonnenen, nüchternen und gelassenen Zustimmung zur umfassenden Lehrtradition der Kirche, wie sie in der Gesamttendenz und in ihren Akzentsetzungen in den Akten des Trienter Konzils und auch des Ersten Vatikanums erkennbar ist, erwarten jene, die sich auf der ganzen Welt zum christlichen, katholischen und apostolischen Glauben bekennen, einen Sprung nach vorwärts, der zu einem vertieften Glaubensverständnis und der Gewissensbildung zugute kommt.«
Oft zitiert wird seine Klage über den Apparat, der ihn oft blockierte: »In der täglichen Ausübung unseres Hirtenamtes verletzt es uns, wenn wir manchmal Vorhaltungen von Leuten anhören müssen, die zwar voll Eifer, aber nicht gerade mit einem sehr großen Sinn für Differenzierung und Takt begabt sind. In der jüngsten Vergangenheit bis zur Gegenwart nehmen sie nur Missstände und Fehlentwicklungen zur Kenntnis. Sie sagen, dass unsere Zeit sich im Vergleich zur Vergangenheit nur zum Schlechteren hin entwickle. Sie tun so, als ob sie nichts aus der Geschichte gelernt hätten, die doch eine Lehrmeisterin des Lebens ist, und als ob bei den vorausgegangenen Ökumenischen Konzilien Sinn und Geist des Christentums, gelebter Glaube und eine gerechte Anwendung der Freiheit der Religion sich in allem hätten durchsetzen können. Wir müssen diesen Unglückspropheten widersprechen, die immer nur Unheil voraussagen, als ob der Untergang der Welt unmittelbar bevorstehen würde.«
Aggiornamento!
Der Schweizer Jesuit Ludwig Kaufmann (1918–1991), seinerzeit Konzilsberichterstatter, hielt den Moment später fest: »Ich erinnere mich, wie es in diesem Augenblick mäuschenstill wurde und auch der Redaktor einer italienischen Zeitschrift (Mondo) hinter mir, der während der ganzen zweistündigen Zeremonie geschwatzt hatte, verstummte. Der Papst sprach vom Kurienalltag (…), und wie ihm da unterschwellig Auffassungen nahegelegt würden, die ihn verletzten.« Eine andere Feststellung gibt ebenfalls eine Ahnung von der unmittelbaren Stimmung: »Es wird berichtet, dass viele Konzilsväter dabei unwillkürlich in die Richtung von Kardinal Ottaviani und seiner Gesinnungsgenossen blickten.« Für den italienischen Konzilsgeschichtserforscher Giuseppe Alberigo (1926–2007) war diese Rede »der wichtigste Akt des ganzen Johannespontifikats«.
Die Kirche auf die Höhe der Zeit bringen, mit der Moderne ins Gespräch bringen statt alles abzuwerten oder geringzuschätzen, war das Ziel des Programmworts der »Verfestigung« (Aggiornamento). Manche sehen darin, bis heute, eine bedingungslose Auslieferung ode rAnbiederung an den »Zeitgeist«. Das Konzil wird dann von der Wichtigkeit sprechen, die »Zeichen der Zeit« zu erkennen.
Überholt, verraten oder unerledigt?
Für manche ist das letzte Konzil überholt. Bestenfalls noch Kirchengeschichte. Andere meinen, es sei verraten worden. Wieder andere sprechen vom unerledigten Konzil.
Für mich ist die Konzilseröffnungsansprache zur geistlichen Lektüre geworden – um dem »Geist des Konzils« nachzuspüren oder zu erahnen, der Johannes XXIII. und diejenigen beseelte, die davon überzeugt waren, dass die Kirche nicht nur Altbewährtes wiederholen und einschärfen darf, sondern Neues wagen muss.
Sechzig Jahre nach Konzilsbeginn gilt es, wieder und wieder auf Johannes XXIII. und seinen Traum von Kirche zu schauen, die dem Menschen dient. Konzilstexte muss ich lesen und verstehen (lernen). Wieder und wieder mich damit auseinandersetzen. »Aus dem Konzil geboren« bedeutet auch: An einem Geburtsvorgang teilnehmen, der schmerzhaft sein kann. Das Erbe des Konzils zu wahren, damit zu wuchern, ist auch ein maieutischer Vorgang und eine Aufgabe, die jeder Zeit aufgetragen ist.
Geist oder Buchstabe?
Texte jedoch sind – und bleiben – Texte. Oft waren es Kompromisstexte, um die in Textwerkstätten gerungen, an denen gefeilt wurde. Das zweite Vatikanum war ein einzigartiges Laboratorium kollektiver Wahrheitsfindung. Bischöfe wussten, dass sie die Expertise von Theologen brauchten. Theologen wussten, dass ein Konzil kein Theologenkongress, sondern eine Bischofsversammlung ist.
Die Berufung auf den »Geist« des Konzilstexte ist ambivalent: Denn das tun die einen wie die anderen. Es geht aber nicht um Buchstaben. Oder um theologisches Fingerhakeln. Es geht darum, ob und wie Kirche zukunftsfähig ist: sprach- und dialogfähig, um es mit jeweils ihrer Zeit aufnehmen zu können.