Der Leipziger Verlag St. Benno hat zum zehnten Jahrestag der Wahl von Papst Franziskus ein schmales Bändchen (93 Textseiten) herausgebracht. Es ist leicht lesbar und bringt drei ebenso spannende wie treffliche Analysen.
Wobei die Beiträge des Politikwissenschaftlers und Theologen Jürgen Erbacher, Leiter der Redaktion »Kirche und Leben katholisch« beim ZDF, und des Leiters der deutschsprachigen Sektion von Radio Vatikan, Stefan von Kempis, Bezug nehmen auf einen bisher unveröffentlichten Vortrag von Bernd Hagenkord SJ (1968–2021), als dieser in der Katholischen Akademie in Dresden 2017 eine Zwischenbilanz zog: »Der Pontifex der Überraschungen«.
Ernüchtert, enttäuscht, überrascht . . .
Akademieleiter Thomas Arnold (Grundlage des Buches ist eine in seinem Haus abgehaltene Veranstaltung) meint im Vorwort, dieser Papst sei »mit seinem Amtsstil zum Rufer« geworden: »Die Enzykliken rüttelten auf, der jesuitische Stil öffnete Diskussionen und manche spontane Äußerungen ermöglichte vielfältige Interpretationen. Manche hat er nach einem Jahrzehnt Pontifikat ernüchtert, wenn nicht sogar enttäuscht. Mich nicht.«
Mich auch nicht. Auch wenn ich mich über manche Äußerungen oder Vorgänge ärgere.
Die übersehene geistliche Grundhaltung des Pontifikats
Bernd Hagenkord, 2021 an Krebs verstorben, nennt Franziskus einen »genialen Kommunikator«, dessen »Sprachbilder« hängen bleiben (»Feldlazarett«, »Zollstation«, »Museumschristen« usw.). Aber auch verunglücken können, weil schräge Metaphern, in andere Sprachen übersetzt, ganz andere, nicht mit bedachte Problemfelder aufreißen können. Franziskus verkündige nicht nur mit Worten. Hagenkord erinnert an Bethlehem (2014): »Der Papst steigt ungeplant von seinem Wagen herab, geht zu der Trennmauer, die Israel gegen Palästina baut und legt Hand und Stirn klagend, nicht anklagend, klagend an diese Mauer. Mit exakt derselben Geste wird er einen Tag später dann an der Westmauer, der sogenannten Klagemauer, stehen und auch dort klagen. Das ist völlig klar, ist stark, da brauch man überhaupt keinen Übersetzer.«
Wichtig ist für Hagenkord »die geistliche Grundhaltung« des Pontifikats, die gelegentlich übersehen wird: »Und wenn wir diesen Papst verstehen wollen, was er von uns will, wie er sich unser Einmischen in die Welt, in die Kirche, in unser eigenes Leben vorstellt, dann sind das die beiden Seiten – diese missionarische Haltung nach außen und Begegnung mit Jesus – zwei Seiten derselben Medaille.«
Franziskus will strukturelle Veränderungen
Jürgen Erbacher analysiert Franziskus ebenfalls als »Kommunikator« und weist auf die »Kultur des Dialogs« hin und auf die Macht der Bilder. Er schaut bisherige und auf den Weg gebrachte Reformschritte an – und den Widerstand dagegen: »Dass dieser Papst die Kirche verändern will, ist keine Frage. Das zeigt der weltweite Synodale Prozess zur Synodalität. Hier geht es ihm um strukturelle Veränderungen.«
Auch den »politischen« Papst nimmt Erbacher in den Blick – und verstörende, auf den ersten Blick nicht immer einsichtige Vorgangsweisen und Entscheidungen.
Der Propehtie-Leseschlüssel
Stefan von Kempis, seit 1995 bei Radio Vatikan, fragt direkt: »Ein Rufer in der Wüste?« Für ihn ist Franziskus »ein Jesaja im Vatikan«: »Dieser Papst überzeichnet gnadenlos, um auf Missstände aufmerksam zu machen; er sorgt dafür, dass die glatt und passend gemachte Botschaft des Evangeliums wieder eckig wirkt, lästig – ›Stein des Anstosses‹.«
Propheten seien jedoch keine Wahrsager, sondern Mahner und »oppositionelle Einzelgänger«, wie der Alttestamentler Erich Zenger Propheten einmal nannte. Kempis favorisiert den »Prophetie-Leseschlüssel für dieses Pontifikat«, weil dieser »auch da noch funktioniert, wo andere nicht hinreichen«: wie etwa »Franziskus, der Jesuit«, »Franziskus, der Seelsorger« oder der »radikale Papst«.
Schwächen, Grenzen, Widersprüchlichkeiten: der »Wut-Papst«
Blind oder blauäugig ist Kempis deswegen nicht geworden. Er listet auch einsame, abrupte Entscheidungen auf, etwa die Absetzung von oder das Auswechseln der Führungsspitze von »Caritas Internationalis«, von der auch der als »Kronprinz« gehandelte philippinische Kurienkardinal Luis Antonio Tagle betroffen war – vom Malteserorden und anderen Personalien ganz zu schweigen: »Ein Wut-Papst, könnte man sagen, analog zu der Wortschöpfung vom ›Wutbürger‹.« Auch das kennt man: »Aus seinem Desinteresse an Strukturen macht Franziskus keinen Hehl, er will eine Reform in den Köpfen und Herzen, keine neuen Organigramme.« Auch Kempis sieht beim Thema Missbrauch einen »blinden Fleck« beim Papst – der Fall des slowenischen Jesuiten Marko Rupnik war damals noch nicht öffentlich.
Schwächen und Grenzen dieses Papstes werden also nicht verschwiegen oder geschönt. Kempis erinnert an einen missglückten Besuch von Franziskus bei Radio Vatikan. Trotzdem ist er davon überzeugt: »Das Papstamt hat er mit seinem prophetischen Ansatz mindestens so stark verändert wie einst Benedikt mit seinem Rücktritt.«
Auf 19 Seiten sind am Ende des Buches prägnante Franziskus-Aussprüche von 2013 bis 2022 zusammengestellt, gefolgt von einer Zeitleiste dieser zehn Jahre und neun eindrucksvollen Fotos, die »typische« Franziskus-Situationen zeigen.