Der Papst wusste von Kardinal Marx, dass sie kommen: Nach einer elf Tage dauernden Radwallfahrt von München nach Rom (»Wir brechen auf! Kirche, bist du dabei?«) nahm er sich am Rande der Generalaudienz am vergangenen Mittwoch (17. Mai 2023) Zeit für eine Gruppe von Missbrauchsbetroffenen.

Menschlich und zugewandt

Richard Kick vom Betroffenenbeirat der Erzdiözese München und Freising berichtete über die Begegnung auf dem Petersplatz in einem Interview für das Internetportal »katholisch.de«: »Es war unerwartet, unerwartet positiv. Weil keiner von uns neun Betroffenen, die an der Pilgertour teilgenommen haben, es erwartet hätte, dass der Papst so nahbar ist. Es war so ein starkes Zeichen, dass er vom Rollstuhl aufgestanden ist, um auf uns zuzukommen.«

Kick hat Franziskus einfach angesprochen, und der habe zugehört: »Ich habe den Papst in dem Moment als sehr menschlich und zugewandt erlebt. Es war etwa eine Viertelstunde, die er bei uns war. Ich hatte den Eindruck, dass er sehr klar und offen uns gegenüber war und das er die Dinge wahrgenommen hat, um die es uns geht. Und dann hat er laut geseufzt.«

Auf die Rückfrage, wie er den Seufzer des Papstes interpretiere, sagte Kick: »Ich habe dem Papst erzählt, dass manche der Täter, die wegen sexuellen Missbrauchs beschuldigt sind, noch im Amt sind. Dass man da in der Vergangenheit viel zu wenig getan hat. Dann hat er einen tiefen Seufzer getan. Ich habe gemerkt, dass er in diesem Moment sehr in sich gekehrt war und lange überlegt hat, was er nun antworten könnte. Er hat versucht, eine Antwort zu finden. Er wurde aber nicht konkret und hat dann zwei, drei Mal den Satz wiederholt: ›Es ist schwierig, es ist schwierig‹. Das hat er auf Deutsch gesagt.«

Sprechfähig – oder nicht?

Das Thema sexueller Missbrauch und sexualisierte Gewalt ist kein Thema, das leicht(-fertig) anzusprechen ist. Kick berichtet von ambivalenten Erfahrungen. Die Begegnung mit Franziskus beeindruckte ihn, eine andere, in Assisi, schockierte: »Das war sehr authentisch. Ich kann es ihm abnehmen, dass es ihm ernst ist mit der Aufarbeitung des Missbrauchs in der Kirche und dass es schwierig ist. Ich erlebe Kirche als nicht sprechfähig bei diesem Thema. Das haben wir auch auf unserer Reise erlebt. Mit fällt eine Begegnung in Assisi ein. Dort hat uns ein Ordensmann empfangen. Er hat uns die Kirchen gezeigt und all die schönen Orte dort. Aber er ist nicht auf uns und das Thema sexueller Missbrauch in der Kirche eingegangen. Er wusste, welche Gruppe wir sind, doch er hat sich nicht dazu geäußert. Erst beim Abendessen haben wir ihn damit konfrontiert, warum er nicht in der Lage war, uns anzunehmen. Dafür hat er sich dann später entschuldigt. Er wusste einfach nicht, was er dazu sagen sollte, er hat keine Worte gefunden.«

Ob der Brief wirkt?

»Good news« sind selten in der Kirche, erst Recht in Zusammenhang mit der leidvollen Erfahrung sexueller Missbrauch. Diese Radwallfahrt gehört dazu. Was löst sie aus? Wirkt sie weiter? Reinhard Kick hofft es und gibt sich optimistisch: »Ja, ich bin sehr ermutigt, vor allem durch die letzte Station der Reise, das Treffen mit Papst Franziskus. Ich habe gespürt: Er hat sich mit uns verbunden (…). Die Gespräche zu führen, den Papst zu erleben, keiner hätte erwartet, dass wir so lange mit ihm reden können. Wir vom Betroffenenbeirat machen jetzt weiter, wir gestalten weiter und wir bringen weiterhin unsere Ideen in die Kirche und die Gesellschaft ein. Mein Wunsch wäre nun, dass der Papst auch den Brief liest, den wir ihn überreicht haben. Denn dieser Brief hat schon eine große Bedeutung für uns. Wir beten, dass dieser Brief auch weiterwirkt. Es ist eine Mahnung. Darin fordern wir den Papst auf, alles dafür zu tun, dass sexueller und spiritueller Missbrauch ein Ende hat in der Kirche. Er soll ein Zeichen setzen gegenüber Tätern und Bischöfen, ihrer Verantwortung in diesem Prozess der Aufarbeitung nachzukommen.«

Große Gesten und Zeichen – und dann?

Papst Franziskus wird oft dafür kritisiert, dass er zwar Zeichen setze, aber ihnen keine Taten folgen lasse. Dass er Symbolpolitik betreibe. In der Begegnung mit Menschen und ihren Anliegen wird er als sehr menschlich, zugewandt, interessiert, neugierig erlebt. Und danach? Er tut, was er kann. Hier ist eine Begegnung gelungen – und die Hoffnung, dass daraus ein nächster Schritt folgt, wirksam und wirklich, ist berechtigt.

Es ist nicht wenig, wenn Betroffene spüren: Der Papst nimmt uns ernst. Tun es auch Kardinäle, Bischöfe, Generalvikare, Personalchefs, die vor Ort Aufarbeitung betreiben müssen? Es braucht die großen Gesten genauso wie kleine, die nicht in die Presse gelangen. Wiedergutmachung, Versöhnung, Verständnis, Hilfe: In der Erzdiözese München und Freising ist man auf einem glaubwürdigen Weg. Steinig ist der Weg, und es wird Rückschläge geben. Mit dieser Aktion ist aber etwas gelungen, nicht nur atmosphärisch.

Interview in voller Länge downloaden.