Das Datum war kein Zufall, sondern bewusst gewählt: Am 15. Oktober 2023, dem Gedenktag der spanischen Mystikerin und Ordensreformerin Teresa von Ávila (1515–1582), hat Papst Franziskus ein neues Apostolisches Schreiben veröffentlicht. Es nimmt den 150. Todestag der »kleinen Therese« in den Blick: Therese von Lisieux.

Auch sie war Karmelitin. Sie lebte keine drei Jahrzehnte, von 1873 bis 1897, wurde 1925 heiliggesprochen und 1997 zur Kirchenlehrerin erklärt. Ihre »Geschichte einer Seele« wurde zum Bestseller: ein spiritueller Klassiker. Was im geistlichen Leben auch zählt: der »kleine Weg«.

Das Vertrauen soll uns zur Liebe führen

Das neue Papstschreiben, das 53 Nummern und 79 Anmerkungen umfasst, trägt diesmal keinen lateinischen, sondern einen französischen Titel: »C’est la confiance«. Er ist einem wörtlichen Zitat aus einem Brief von 1896 entnommen, den die Heilige mit bürgerlichem Namen Thérèse Martin und dem Ordensnamen Thérèse de l’Enfant Jésus et de la Face (Therese vom Kind Jesu und vom Heiligen Antlitz) geschrieben hat: »C’est la confiance et rien que la confiance qui doit nous conduire à l’Amour«: »Das Vertrauen und nichts als das Vertrauen soll uns zur Liebe führen!«

Schon in »Evangelii gaudium«, seinem Apostolischen Schreiben von 2013, kam Papst Franziskus auf die Heilige zu sprechen: »Wertvoll ist das Zeugnis . . .« (EG 91, Anm. 69). Denn sie gehört zu dem Pool an Autorinnen und Autoren, aus dem Jorge Mario Bergoglio SJ lebenslang schöpfte, wie mein Frankfurter Mitbruder vor Jahren bereits aufzeigte: Michael Sievernich (Hg.), Papst Franziskus. Texte, die ihn prägten. Darmstadt 2015.

Eine »Lehrmeisterin der Synthese« oder: Mut und innere Freiheit für die (Moral-)Lehre der Kirche

Der letzte Abschnitt lautet: »4. Im Herzen des Evangeliums«. Die Heilige wird darin, in gewisser Absetzung von Thomas von Aquin, als eine »Lehrmeisterin der Synthese« bezeichnet. Eine Leseprobe erspart jeden weiteren Kommentar. Es sind die Nummern 48 bis 50:

»48. Nicht alles ist gleichermaßen zentral, denn es gibt eine Ordnung oder Hierarchie unter den Wahrheiten der Kirche, und ›das gilt sowohl für die Glaubensdogmen als auch für das Ganze der Lehre der Kirche, einschließlich der Morallehre‹. Das Zentrum der christlichen Moral ist die Liebe, die Antwort auf die bedingungslose Liebe der Dreifaltigkeit ist, so dass ›die Werke der Nächstenliebe die vollkommenste äußere Manifestation der inneren Gnade des Geistes sind‹. Am Ende zählt nur die Liebe.

49. Der spezifische Beitrag, den uns die kleine Therese als Heilige und als Kirchenlehrerin schenkt, ist nicht analytisch, wie etwa derjenige des heiligen Thomas von Aquin. Ihr Beitrag ist vielmehr synthetisch, denn ihre besondere Fähigkeit ist es, uns zum Zentrum zu führen, zum Wesentlichen, zum Unverzichtbaren. Sie zeigt mit ihren Worten und mit ihrer eigenen persönlichen Entwicklung, dass, obwohl alle Lehren und Normen der Kirche ihre Bedeutung, ihren Wert, ihr Licht haben, einige dringlicher und grundlegender für das christliche Leben sind. Eben darauf hält Theresia ihren Blick und ihr Herz gerichtet.

50. Als Theologen, Moraltheologen, Gelehrte der Spiritualität, als Hirten und als Gläubige, müssen wir, jeder in seinem Bereich, diese geniale Einsicht der kleinen Therese noch mehr aufgreifen und die Konsequenzen daraus zu ziehen, theoretisch wie praktisch, lehrmäßig wie pastoral, persönlich wie gemeinschaftlich. Dazu braucht es Mut und innere Freiheit (audacia y libertad interior).«

Zur Überwindung einer gesetzeszentrierten Logik den Vorrang der Liebe, des Vertrauens und der Hingabe wiederentdecken

In Nr. 52 setzte Franziskus einen kräftigen Schlussakkord. Das traut er Therese von Lisieux zu, um die Freude des Evangeliums neu zu entdecken: »In einem komplexen Augenblick kann sie uns helfen, die Einfachheit, den absoluten Vorrang der Liebe, des Vertrauens und der Hingabe wiederzuentdecken und eine gesetzes- oder ethikzentrierte Logik zu überwinden, die das christliche Leben mit Pflichten und Vorschriften füllt und die Freude des Evangeliums einfriert (superando una lógica legalista o eticista que llena la vida cristiana de observancias o preceptos y congela la alegría del Evangelio).«

Bei dem in Brixen lehrenden Moraltheologen Martin M. Lintner heißt das: »Befähigungsmoral«. Wer Zweifel (»dubia«) hat, lese den gesamten Papsttext – als geistliche Lektüre: hier downloaden (Webseite des Vatikans).