100 Jahre wäre geworden, am 29. September 2026, doch kurz vor Jahresende 2024 zeichnete sich ab, dass seine allerletzte Zeit angebrochen ist: Am 14. Januar 2025 ist der Jesuit Walter Rupp verstorben. R.I.P.
Einige Jahre haben wir, bis zur Schließung des Schriftstellerhauses der deutschen Jesuiten in München-Nymphenburg im Oktober 2003, in einer Kommunität gelebt. Seine Jugenderinnerungen hat Rupp 2021 in einem kleinen, spannend geschriebenen Buch festgehalten: Walter Rupp, Meine Schulzeit unterm Hakenkreuz. Erinnerungen eines Würzburgers. Würzburg: Echter 2020. 76 S. mit s/w-Fotos. 9,90 Euro. Hier meine Rezension:
Geglückte Lebenswahl
Bei Kriegsende war Walter Rupp 19 Jahre alt. Aus war für ihn der Zweite Weltkrieg damit nicht. Er kam in amerikanische Kriegsgefangenschaft – weil Unterlagen, die beweisen hätten können, dass er aus der Hitlerjugend (HJ) entlassen und in die Wehrmacht gezwungen worden war, bei Bombenangriffen verbrannt waren. Im November 1945 kam er frei – und musste bei der »Entnazifizierung« helfen. »Für mich«, schreibt er, »erfüllte sich ein Kindheitstraum: Ich durfte meinen Lehrern Zeugnisse schreiben, damit sie für den Schuldienst wieder zugelassen wurden. Das war einer der wenige Höhepunkte meines Lebens. Denen, die zur mir kamen, konnte ich den Persilschein nicht verweigern Sie waren wirklich keine Nazis, sie hatte sich nur angepasst und nicht gezeigt, dass sie es nicht sind.« (52)
Und er selber? Am 31. August 1946 wählte Rupp »eine alternative Lebensweise« – und wurde Jesuit: »nicht aus Lebensüberdruss, nicht, weil ich ein Erleuchtungserlebnis hatte, und nicht aus enttäuschter Liebe. Ich traf diese Entscheidung wie andere ihre Berufswahl treffen und etwas nüchterner, als man gewöhnlich Partnerwahlen trifft.« (56) Und diese Lebenswahl scheint geglückt zu sein. Denn nach 75 Jahren ist er immer noch im Orden – und schreibt und schreibt und schreibt.
Zeitzeuge der Überführung von Rupert Mayer SJ
1948 nahm Rupp an der Überführung von P. Rupert Mayer vom Ordensfriedhof in Pullach in den Bürgersaal teil, einer unter Zehntausenden. Die überwältigende Anteilnahme der Bevölkerung hinterließ bei dem jungen Jesuiten einen bleibenden Eindruck: »Das Andenken an ihn«, so Rupp, »war so lebendig, dass noch nach 40 Jahren, zu den Aufführungen meines Bühnenstückes über ihn über 12.000 Besucher kamen.« (67)
»Ich schweige nicht« entstand fristgerecht zur Seligsprechung Rupert Mayers im Mai 1987. Rupp berichtet: »Nach einer Probe für dieses Bühnenstück, das diese dunkle Zeit noch einmal in die Gegenwart holt, gestand mir – davon beeindruckt – einer meiner Schauspieler: Er habe wegen seines Verhaltens dieser Zeit immer noch ein schlechtes Gewissen. Er habe sich als HJ-Führer mit Eifer für den neuen Staat eingesetzt und seinen Vater, den er als alten Herrn betrachtete, der die Zeichen der Zeit nicht mehr versteht, wegen seiner Kritik am neuen Staat denunziert. Und er wiederholte immer wieder den Satz: Ich komme darüber nicht hinweg, dass ich so töricht war, diesem Rattenfänger nachzulaufen.« (67 f.)
»Spaß am Protest«
Naiv, gar töricht war Walter Rupp schon als Jugendlicher nicht. Als Sohn überzeugter Katholiken wurde er mit acht Jahren Ministrant, musste jedoch in die HJ eintreten, die als Staatsjugend gedacht war: »Diese Zugehörigkeit, der man sich nicht entziehen konnte, bedeutete: versaute Nachmittage, Abende und Wochenenden. So raubte man uns die Jugend.« (14) Mit zehn wurde er heimlich Mitglied der damals schon verbotenen Marianischen Kongregation in Würzburg. Was er dort erlebte, ist ausführlich beschrieben. Viel wurde über den Nationalsozialismus und vom Staat unterdrückte Fragen diskutiert: »Wir spürten täglich seine gehässige Einstellung gegenüber der Kirche, ja dass zwischen der Nazi-Ideologie und dem Christentum ein unüberbrückbarer Gegensatz besteht.« (16)
Von einem MK-Gruppenführer angeworben, führte Rupp mit dem Rad Hirtenbriefe in Pfarreien aus, ein »Geheimauftrag« (vgl. 18-21), auf den der Knirps stolz war. Dafür log er sogar seine Eltern an – wohingegen Dekane ihn mit Süßigkeiten überhäuften, als sie die Post aus dem bischöflichen Ordinariat erhielten. Wie »braun« die Lehrer, wie »braun« die Schüler waren, ist eindrücklich geschildert (26-35). In verhörartigen Begegnungen wurde immer wieder versucht, ausgesuchte Jungs für die SS zu begeistern. Messen wurden durch NS-Morgenfeiern ersetzt, »zu der ein hauptamtlicher HJ-Führer aus Würzburg kam, was uns allen missfiel. Es war deshalb für meinen Freund und mich nicht schwer, die Klasse zu überreden, diesem von einem HJ-Oberpriester geleiteten Ersatzgottesdienst fernzubleiben und stattdessen in die Dorfkirche zu gehen, wo wir durch unsere Anwesenheit die Aufmerksamkeit des Pfarrers und aller Kirchenbesucher auf uns lenkten.« Diese Aktion hatte Folgen: »Das wurde als Sabotage, als Widerstand gegen eine staatliche Anordnung ausgelegt.« (34)
Rupp wurde unehrenhaft aus er HJ entlassen. Im Frühjahr 1944 musste er als Luftwaffenhelfer eine Fabrik in Schweinfurt »schützen«. In Uniform. Mit Unterstützung von Offizieren weigerte er sich dabei, HJ-Armbinden zu tragen und sich parteipolitisch »schulen« zu lassen. Sechs Wochen lang wurden er und seine Kameraden gedrillt, neben der Schule. Im Januar 1945 wurde Rupp aus der Luftwaffe entlassen. An einen geregelten Unterricht war nicht mehr zu denken. Wegen eines »Führererlasses« sollten alle Schüler, die im Frühjahr 1945 ihr Abitur abgelegt hätten, ein Notabitur erhalten. Die Zeugnisse lagen unterschriftsreif auf dem Schreibtisch des Direktors, verbrannten aber bei einem Bombenangriff im März 1945. Nachgereichte Bestätigungen nach dem Krieg reichten nicht aus, für die Immatrikulation an einer Hochschule wurden zwei »Vorsemester-Kurse« zwingend.
1944 zum Reichsarbeitsdienst in Bad Kissingen einberufen, wurde Rupp im Mai 1944 zu den Panzergrenadieren in Coburg versetzt. Im September 1944 kam er an die Front und hatte »Glück im Unglück« (45-47): In den Besiden, einem Gebirgszug in den Karpaten, wurde er im Oktober 1944 durch Granatsplitter schwer verwundet, kam ins südpolnische Zakopane und von dort nach Würzburg: »Der Chefarzt des Juliusspitals gab sich keine Mühe, mich möglichst bald für den Endsieg fit zu machen, sondern sorgte dafür, dass meine Heilung nicht übereilt verlief.« (46) Im März 1945 erlebte Rupp während des Lazarettaufenthalts die Präzisionsbombardierung und Zerstörung der Stadt durch die Royal Air Force. Rupp desertierte – und ergab sich am 6. April den Amerikanern, die ihn als Kriegsgefangenen betrachteten und in ein Lager nach Aix-en-Provence schickten.
Vergangenheitsbewältigung?
Die »Vergangenheitsbewältigung«, die Rupp erlebte, fand entweder nicht statt – oder sie misslang. Auch nicht im Orden (vgl. 53-55). Erst die Achtundsechziger erzwangen eine Auseinandersetzung, der sich nicht mehr ausweichen ließ. Rupp war inzwischen in den Vierzigern: »Ich hielt es zu dieser Zeit für angebracht, durch Rundfunkbeiträge, Buchpublikationen, Vorträge und Bühnenstücke die aufzurütteln, die mit Predigten nicht wach zu machen sind.« (66) Rupp lernte noch Augustin Rösch SJ kennen, der Alfred Delp SJ in den »Kreisauer Kreis« geholt hatte, wofür dieser am 2. Februar 1945 hingerichtet wurde.
Mit spitzer Feder: ein kritischer Geist, auch mit über 90
»Verjüngungskur der Kirche« (65-68), »Meine Umweltschäden« (69-70) und »Wetterprognose für die Zukunft« (71-73) sind die drei letzten Abschnitte dieses spannend geschriebenen Rückblicks überschrieben. Von 1960 an wirkte Walter Rupp als Jugendseelsorger, von 1974 bis 2005 war er Leiter eines Akademiker-Zentrums in München. Schriftsteller ist er, wie man sieht, noch heute.
Die spitze Feder liegt dem Ironiebegabten, der auf den Punkt bringen, auf die Schaufel nehmen und karikieren kann, dabei aber nicht verletzt. 2006 wurde er mit dem »Poetentaler« ausgezeichnet. Auch in Unterhaching, wo er seit gut einem Jahr in einem Altenheim seinen Lebensabend verbringt, hat er, der sich zeitlebens mit Tennis und Surfen fit hielt, das Schreiben nicht aufgegeben. Walter Rupp ist ein kritischer und wacher Geist geblieben. Frömmelndes Schönreden, »Verführung« liegt ihm nicht – ein Erbe der Jugend, das er sich auch als Jesuit bewahrt hat, als welcher er meistens als Einzelgänger unterwegs war.
Kirchenkritik und Selbstironie
Zwei letzte Beispiele für seine Kirchenkritik – und eine gewisse Selbstironie: »Die moderne Pastoral nimmt sich nur derer an, die kurz vor dem Ertrinken sind, und überlässt die, die sich noch über Wasser halten können, sich selbst.« (66)
Und: »Große Persönlichkeiten sind mir manchmal in Geschichtsbüchern, im Leben aber nie begegnet. Jedenfalls konnte ich ihre Größe nicht entdecken. (. . .) Und bei den Kirchenoberen, denen ich begegnet bin, konnte ich nicht erkennen, dass sie, wenn sie nicht auf Stufen standen, ämterlose Laien um Längen überragten. Ich folgere aus den Erfahrungen meines Lebens, dass alle Großen entweder noch nicht geboren wurden oder unerkannt gestorben sind.« (72 f.)