Wieder einmal eine päpstliche Überraschung! Zuerst wollte er sich nur an angehende Priester wenden. Dann schien ihm, dass der »Wert der Lektüre von Romanen und Gedichten auf dem Weg der persönlichen Reifung« nicht nur Seminaristen betrifft, sondern »die Ausbildung aller pastoralen Mitarbeiter und aller Christen«. – Und so veröffentlichte Papst Franziskus, datiert mit 17. Juli 2024, einen weiteren, am ersten August-Wochenende veröffentlichten »Brief« über die Bedeutung der Literatur in der Bildung.

 Schlag nach bei: Karl Rahner, Michel de Certeau oder T.S. Eliot und Paul Celan

44 Abschnitte enthält der Text, das pdf-Druckfile der deutschen Übersetzung umfasst zwölf Seiten, dazu kommen zwei Seiten mit Anmerkungen. In früheren Jahren zitierten Päpste vor allem sich selbst und päpstliche oder lehramtliche Dokumente. Hier sind es Papst Johannes Paul II., das Zweite Vatikanische Konzil und das eigene Apostolische Schreiben »Evangelii gaudium«.

Franziskus hat aber, wie schon früher, keine Scheu, auch zeitgenössische Autorinnen und Autoren zu zitieren. Diesmal: die Jesuitengelehrten René Latourelle, Karl Rahner und Michel de Certeau; die Literaten Jorge Luis Borges, Marcel Proust, T.S. Eliot, Jean Cocteau und Paul Celan; den Theologen Jacques Maritain; außerdem seinen Ordensvater Ignatius von Loyola und seinen Mitbruder Antonio Spadaro, den langjährigen Direktor der »Civiltà Cattolica«.

Literatur vs. soziale Medien

Franziskus gibt sich davon überzeugt, dass ein Buch »zu einer Oase« werden kann, »die uns von anderen Entscheidungen, die uns nicht guttun, abhält«. Ein gutes Buch könne helfen, „den Sturm zu überstehen, bis wir ein wenig mehr Gelassenheit finden können«. Zu tun hat diese Einschätzung mit einer zivilisationskritischen Beobachtung: »Und vielleicht eröffnet uns die Lektüre neue innere Räume, die uns helfen, uns nicht in jenen wenigen zwanghaften Ideen zu verschließen, die uns unerbittlich gefangen halten. Vor der Allgegenwart von Medien, sozialen Netzwerken, Mobiltelefonen und anderen Geräten war dies eine häufige Erfahrung, und diejenigen, die sie gemacht haben, wissen, wovon ich spreche. Das ist nicht etwas Überholtes.«

Lesen ist für den Papst ein aktives Geschehen – weil Leser mitschreiben, weiterschreiben mit ihrer Fantasie. Damit wird Literatur zu einer Art Antitoxin gegen »die Besessenheit von Bildschirmen – und von den giftigen, oberflächlichen und gewalttätigen Fake News«. Literatur, die nicht als „eine Form Unterhaltung« abgetan werden könne, hilft, die »intellektuelle und spirituelle Verarmung« zu unterlaufen.

Erinnerung an Jorge Luis Borges

Franziskus erinnert sich an die Jahre 1964/65, als er in der argentinischen Stadt Santa Fe Professor für Literatur war. Seine Schüler, berichtet er, weigerten sich, Klassiker wie »El Cid« zu lesen. Sie bevorzugten den spanischen Lyriker und Dramatiker Federico García Lorca. Die Einsicht des damaligen, noch nicht 30-jährigen Jesuiten: »Nichts ist kontraproduktiver, als etwas aus Pflichtgefühl zu lesen«. Jorge Mario Bergoglio griff zu einem Trick: Er lud den damals schon 65-jährigen argentinischen Schriftsteller Jorge Luis Borges ein, der die Schüler faszinierte – und damit Bergoglios Versuch, zu kreativem Schreiben anzuregen, unterstützte. Darüber hat der Papst später ausführlich in dem Interview mit Antonio Spadaro (August 2013) berichtet. Auch Biografen wie Austen Ivereigh oder Massimo Borghesi nahmen darauf Bezug.

Die Didaktik des Lesens: eine »Schule für das Unterscheidungsvermögen«

Dass Lesen dabei helfen kann, »einen größeren Wortschatz zu erwerben und folglich verschiedene Aspekte seiner Intelligenz zu entwickeln«, mag als Banalität erscheinen. Man drehe die Erfahrung um: Wozu führt Nicht-Lesen? Literatur bewegt. Poesie berührt. Dafür bemüht Franziskus seinen Vorgänger Paul VI. und T.S. Eliot, der die moderne religiöse Krise als „emotionale Unfähigkeit« beschrieb. Hier zitiert er auch Karl Rahners Beitrag »Priester und Dichter« von 1955/56, in dem Rahner auf Rilke eingeht und um »Urworte« kreist.

Dass ein Jesuitenpapst auf die »Unterscheidung der Geister« zu sprechen kommt, darf nicht verwundern. Er tut es oft. Auch hier in diesem »Brief«: »In der Literatur geht es also um Fragen der Ausdrucksform und des Sinns. Sie stellt daher eine Art Schule der Unterscheidung dar (…) Hier entfaltet sich also das Szenario der persönlichen geistlichen Unterscheidung, in dem es an Ängsten und sogar Krisen nicht mangeln wird. In der Tat gibt es zahlreiche literarische Seiten, die der ignatianischen Definition von ›Trostlosigkeit‹ entsprechen können.«

Schon wieder eine Vokabel, die zum Grundbestand ignatianischer, von den Geistlichen Übungen (Exerzitien) geprägten Spiritualität gehört: Trostlosigkeit. Literatur kann aufbauen, unterscheiden und Stimmungen sortieren helfen. Sie hilft zu »verdauen«.

Kein Wunder, dass Franziskus dabei auch Mystiker wie Guillaume de Saint-Thierry (11. Jh.) oder den ihm sehr vertrauten Jesuiten Jean-Joseph Surin (17. Jh.) erwähnt sowie den von ihm sehr geschätzten Grenzgänger Michel de Certeau (1925–1986).

Herzens- und Verstandesbildung gegen Verunreinigungen des kirchlichen Diskurses

Auch wenn Papst Franziskus in seinem Brief oft direkt von »Hirten« oder »zukünftigen Hirten« spricht, muss man immer im Hinterkopf behalten, dass er seine Ausführungen über die Bedeutung der Literatur »bei der Herzens- und Verstandesbildung« an alle in der Seelsorge stehenden Menschen richtet.

»In diesem Sinne«, resümiert er, »hilft die Literatur dem Leser, die Götzen der selbstbezogenen, fälschlich selbstgenügsamen, statisch konventionellen Sprachen zu zerstören, die manchmal sogar unseren kirchlichen Diskurs zu verunreinigen drohen und die Freiheit des Wortes einsperren. Das literarische Wort ist ein Wort, das die Sprache in Bewegung setzt, sie befreit und reinigt: Es öffnet sie schließlich für ihre eigenen weiteren Ausdrucks- und Erkundungsmöglichkeiten, es macht sie aufnahmefähig für das Wort Gottes, das sich in menschliche Sprache kleidet, nicht wenn es sich als Wissen versteht, das bereits endgültig und vollständig ist, sondern wenn es zu einer Nachtwache des Hörens und des Wartens auf denjenigen wird, der kommt, um alles neu zu machen (vgl. Offb 21,5).«

Ein neues Bildungskonzept?

Nach Ansicht des Fuldaer Religionspädagogen Markus Tonberg hat der Papst mit seinem Brief »ein Bildungskonzept« vorgeschlagen, »das den Anderen, Fremden einen Vorrang einräumt, an ihren Stimmen ehrlich interessiert ist und von ihnen lernt«. Die Nachrichtenagentur »kathpress« (Wien) spricht von einer »päpstlichen Liebeserklärung an Bücher«.

(Ergänzung am 08.08.2024:) Der Würzburger Pastoraltheologe Erich Garhammer hat den Text auf dem Münsteraner Forum für Theologie und Kirche analysiert: »Wider die kognitive Verschanzung. Über die Bedeutung der Literatur«.