Die ersten Kommentare sind geschrieben, erste Analysen angestellt. Sie reichen, wie nicht anders zu erwarten, von begeisterter Zustimmung bis zu scharfer Ablehnung. Polarisiert Franziskus? Offensichtlich eckt er an, so oder so, und er scheint daran Gefallen zu finden.

Eine Enzyklika, die jede und jeden zufriedenstellt, gibt es vermutlich nicht. Das ist auch bei »Fratelli tutti« (FT) so. Schon  der Titel hat aufgeregt, Wochen vorher, obwohl er einem historischen Dokument von Franz von Assisi entnommen ist.

Es dauert schon einige Stunden, bis man das päpstliche Lehrschreiben durchgelesen und nicht nur überflogen, quergelesen hat. Reicht es, sich mit Kurzfassungen, Auszügen oder Kommentaren zu begnügen? Überrascht haben mich positive wie negative Stellungnahmen nicht. Die Heftigkeit, teils auch die Gehässigkeit und Arroganz mancher Kommentare, ihr Tonfall, gibt mir freilich zu denken.

Religiöser Kitsch, sozialethisch unterkomplex?

Eine Auswahl kritischer oder negativer Einschätzungen: »Aber, hart gesagt, das analytisch dürftige Geschwurbel insbesondere im ›Die beste Politik‹ überschriebenen Kapitel ist ärgerlich« – »Gegenüber Globalisierung, Liberalismus und Individualismus verkümmert das Gespräch« – »Weltverbesserung auf Holzwegen« – »Gerade weil es sich um keinen geschlossenen Text handelt, sondern um eine höchst heterogene Sammlung von Rede-Ausschnitten der vergangenen Jahre hätte das Sammelwerk vor seiner Erhebung in den Rang einer Enzyklika eines sorgfältigen Lektorats bedurft. Ohne dieses Korrektiv wirkt vieles sprunghaft. Es fehlt eine schlüssige Gliederung und die Bereinigung von Redundanzen« – »Chance vertan.« – »Plädoyer für ein universales Gutmenschentum: Die Kirche sieht sich als Teil einer Allianz der Weltverbesserung und verbindet ihre geistliche Aufgabe mit den Aspirationen von UNO und NGOs« – »Mit seinem Werk hat er sich Lichtjahre von den Ideen einer Sozialen Marktwirtschaft entfernt« – »Die Liste empiriefreier Urteile ließe sich nach der Lektüre von ›Fratelli tutti‹ beliebig verlängern« – »Man könnte ›Fratelli tutti‹ als Frucht der Selbstermächtigung eines Mannes lesen, der von seiner welthistorischen Mission derart überzeugt ist, dass ihm jedes Mittel recht ist. Doch beschädigt Franziskus mit dieser dem populären Protestdiskurs entlehnten Haltung die Autorität und die Integrität des Papsttums« – »ein intellektueller Offenbarungseid« – »Bei Franziskus bleiben die theologischen Hinweise ornamental gegenüber einer gesellschaftspolitischen Utopie, die ein seltsam schwebendes Eigenleben führt« – »Der Text leidet unter Weitschweifigkeit und Wiederholungen, vor allem unter einem kulturpessimistischen Grundton« – »Manche Sprachbilder der Enzyklika wirken nebulös. Etliche der in ein und demselben Satz verknüpften Assoziationen sind zusammenhanglos, Vergleiche schief. Gute Lektoratsarbeit hätte sich um den Stil kümmern und korrigierend eingreifen müssen« – »Unglaubwürdig und überflüssig« – »Von den 288 Fußnoten beziehen sich ca. 80 Prozent auf päpstliche Äußerungen« – »päpstlich-egozentrisch« – »verwirrend« – »Das 8. Kapitel ist der größte Skandal dieses schönen frommes Textes« – »So ist also  wieder viel Papier mit vielen überflüssigen selbstbezogenen Fußnoten entstanden«– »sozialethisch und politisch unterkomplex« – »so trivial wie zweischneidig« – »religiöser Kitsch« – »ideologisch verengt« – »freischwebend« – »undifferenziert« – »maßlos übertrieben« – »fehlende Sachkunde« – »eine Reihe pauschaler, recht grober, zum Teil unterkomplexer Sprachbilder« – »politisch illusorisch« – »friedensethisch fahrlässig« …

Die Utopie der globalen Geschwisterlichkeit

Haben andere, positive Stimmen Unrecht? Ist verblendet, wer in der Enzyklika einen »Meilenstein« sieht, die Vision einer geschwisterlichen Welt teilt, an den Traum von weltweiter Solidarität auf der Basis universaler Liebe glaubt? Taugt die Ethik des barmherzigen Samariters nur für die Kanzel oder den Meditationsraum? Hat Barmherzigkeit in der Realpolitik nichts verloren? Wie politisch darf Nächstenliebe sein?

Die einen Sozialethiker sagen, dass Franziskus »ganz eindeutig in der Tradition katholischer Sozialverkündigung« stehe. Andere sprechen ihm genau das ab. Schon »Laudato si’« passte ihnen nicht. Wieder bekam man Stimmen im Tonfall eines Nachrufes zu lesen: ein Pontifikat in der Zielgeraden?

Rückfragen

Für berechtigt halte ich Rückfragen hinsichtlich der Sensibilität für eine geschlechtergerechte bzw. gendersensible Sprache im Vatikan. Auch kann man fragen, ob Geschwisterlichkeit und Dialogbereitschaft in der Kirche derart ausgeprägt sind, dass sie mit Recht von anderen gefordert werden können. Soziologische und theologische Analysen könnten auch differenzierter ausfallen, genauso wie es nicht nur Schattenseiten der Globalisierung gibt, sondern auch positive Errungenschaften.

Eine andere Schwachstelle: Der Vatikan gehört zu den wenigen Völkerrechtssubjekten, die die Menschenrechtserklärung von 1948 immer noch nicht unterschrieben haben.

Prophetie und Vision

Otto Friedrich, bei der österreichischen Wochenzeitung »Die Furche« zuständig für »Religion, Film, Medien« hat zu den heftigen Polemiken gemeint: »Solch höhnische Töne werden dem Anliegen von Franziskus natürlich alles andere als gerecht. Aber Prophetie und Vision beschwören immer schon auch ablehnende Reaktion herauf. Gott sei Dank lässt sich der Papst davon nicht beirren.« Bequem waren und sind Propheten nie.

Der Vatikan-Experte Jürgen Erbacher, Leiter der Redaktion »Kirche und Leben katholisch« beim ZDF in Mainz, sah es voraus: »Franziskus wird mit Sicherheit viel Kritik ernten für das neue Schreiben. Als Marxist wird er bezeichnet werden von den Anhängern einer liberalen Wirtschaftstheorie, als Häretiker von konservativen Christen, weil er Muslime ganz selbstverständlich als Partner sieht und betont, dass Gott alle Menschen liebt, unabhängig von Religion, ja selbst Atheisten. Utopist werden ihn die nennen, die von der aktuellen Wirtschaftsordnung profitieren auf Kosten der Armen und Ausgegrenzten. Der Papst wird weiter träumen, weil er überzeugt ist: Wer Träume hat, er jagt ihnen nach, damit sie sich erfüllen. Er baut darauf, Mitträumer zu finden für eine geschwisterliche Welt.«

Erbachers kurze, durchaus nicht hymnische Einführung ist nachzulesen in der vom Verlag Patmos herausgegeben deutschen Ausgabe von »Fratelli tutti«. Diese bringt im Anhang auch einen hilfreichen, sehr differenzierten Themenschlüssel, listet zitierte Namen und Dokumente übersichtlich auf und verweist auf erwähnte Bibelstellen – eine gute Grundlage, wer sich auf eine zweite oder dritte Lektüre der Enzyklika einlässt.

»Ich lege diese Sozialenzyklika als demütigen Beitrag zum Nachdenken vor. (…) So schrieb ich diese Enzyklika auf der Grundlage meiner christlichen Überzeugungen, die mich beseelen und nähren, und habe mich zugleich bemüht, diese Überlegungen für den Dialog mit allen Menschen guten Willens offen zu halten« (FT 6): Mich überzeugt das. Wer dem Papst gute Absichten abspricht, von vornherein, liest diese Enzyklika nicht neutral. Für Verächter wie Verehrer von Papst Franziskus gilt: Sie sitzen im gleichen Boot.