Vor vier Jahren – das Internetportal »katholisch.de« hat punktgenau daran erinnert: Am 29. Juni 2019 erhielten die deutschen Katholiken einen »Brief« von Papst Franziskus, aus dem die einen dies, die anderen das herauslasen (Wortlaut hier). Bis heute. Nämlich ein Stoppschild für den im Frühjahr 2019 beschlossenen Synodalen Weg, dessen Vollversammlungen mittlerweile alle stattfanden – die einen. Und eine Bestärkung für dieses von DBK und ZdK gemeinsam angestrengte Projekt, von dem sich im Nachgang einige Bischöfe distanzierten – die anderen. Ermutigung oder Ermahnung?, fragte ich damals (Link hier).

Mittlerweile frage ich mich: Mag der Papst die Deutschen nicht? Oder nur ganz bestimmte? Auf wen hört er? Auf wen nicht? Im Konklave 2013 waren sechs deutsche Kardinäle vertreten: Paul Josef Cordes, Walter Kasper, Karl Lehmann, Reinhard Marx, Joachim Meisner und Rainer Maria Woelki. Gäbe es heute ein Konklave, wären drei deutsche Purpurträger dabei: Reinhard Marx, Gerhard Ludwig Müller und Rainer Maria Woelki.

Der argentinische Papst und die Deutschen

In seinem Buch »Wage zu träumen. Mit Zuversicht aus der Krise« (2020) spricht Papst Franziskus von drei Covid-Erfahrungen seines Lebens (1958, 1986, 1990 bis 1992): Während seines Aufenthalts an Rhein und Main, als Fünfzigjähriger, hatte er Heimweh: »Meine Zeit in Deutschland 1986 mag man den ›Covid der Vertreibung‹ nennen. Es war eine freiwillige Entwurzelung, weil ich nach Deutschland gegangen war, um mein Deutsch zu verbessern und Material für meine Doktorarbeit zu suchen. Aber dort fühlte ich mich völlig fehl am Platz.« (S. 57)

Noch vor seiner Amtseinführung lobte Papst Franziskus in einer kurzen Ansprache vor dem allerersten Angelusgebet Kardinal Kaspers Buch über Barmherzigkeit, dessen spanische Übersetzung er während des Konklaves gelesen hatte. Er schätzt die theologische Expertise des ehemaligen Dogmatikprofessors. Auf Einladung des Papstes hielt Kasper im Februar 2014 vor dem außerordentlichen Konsistorium der Kardinäle einen später viel diskutierten Vortrag, der als Meilenstein der theologischen Debatte im Umfeld der außerordentlichen Weltbischofssynode im Oktober 2014 und der ordentlichen Weltbischofssynode im Oktober 2015 gilt.

Kardinal Marx war unter den acht Kardinälen, die Franziskus in den von ihm eingerichteten Kardinalsrat berief, um eine Kurienreform auf den Weg zu bringen: am 13. April 2013, vier Wochen nach seiner Wahl (K8). Dem Papst war wichtig – 2014 kam aus logistischen Gründen auch Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin dazu (K9) –, dass dieses Gremium, das von Teilen der Kurie als Schattenkabinett empfunden wurde, mit erfahrenen Kardinälen besetzt ist, die von außen kommen und nicht den Tunnelblick eines schwerfälligen, an Reformen wenig interessierten Apparates haben.

Kasper ist mittlerweile 90. Marx schied, wie andere Mitglieder (Maradiaga, Bertello), aber nicht alle, im März 2023 aus dem Kardinalsrat aus. Mitglied im Päpstlichen Wirtschaftssekretariat und dessen Koordinator ist er seit 2014 und wurde 2020 im Amt bestätigt. Europa ist im Kardinalsrat jetzt durch Kardinal Jean-Claude Hollerich SJ, Erzbischof von Luxemburg, vertreten, der als Generalrelator eine wichtige Rolle auf der Weltbischofssynode im Herbst 2023 spielen wird.

Gerhard Ludwig Müller, im Juli 2012 von Benedikt XVI. als Präfekt der damaligen Glaubenskongregation an die Kurie geholt, wurde von Franziskus in seinem Amt bestätigt und im Februar 2014 zum Kardinal ernannt. Nach Ablauf der ersten fünfjährigen Amtszeit verzichtete Franziskus allerdings auf eine Verlängerung – völlig überraschend für Müller (»Diesen Stil kann ich nicht akzeptieren«) und ohne Angabe von Gründen. Seither konnte Franziskus, wenn er wollte, viele Interviews des ehemaligen Regensburger Bischofs lesen, in denen sich dieser über Franziskus-Maßnahmen, -Sager und -Entscheidungen beschwerte.

Vernetzung in Rom – und weltweit?

Georg Bätzing, seit März 2020 Vorsitzender der DBK, ist nicht Kardinal. Wird er gehört in Rom? Ernst genommen? Durch wen lässt sich der Papst informieren? Wem traut er? Hört Franziskus auf den Hildesheimer Bischof Heiner Wilmer, der zuvor Generaloberer der Herz-Jesu-Priester war? Oder auf den Bischof von Essen, Franz-Josef Overbeck? Beide hatten, wie weitere Bischöfe, im Herbst 2022 Audienzen bei Franziskus, obwohl im November 2022 ein Ad-limina-Besuch der DBK anstand.

Bätzings Vorgänger als Bischof von Limburg, Franz-Peter Tebartz-van Elst, ist seit Dezember 2014 Kurienbischof und Apostolischer Delegat im Dikasterium für die Evangelisierung und dort für Katechese zuständig. Im Vatikan leben auch noch beiden Kardinäle Walter Brandmüller (94) und Paul Josef Cordes (86). Mit Konrad Bestle hat der Campo Santo Teutonico seit Januar 2023 einen neuen Rektor. Im September 2022 ist der Osnabrücker Priester Marco in die deutschsprachige Sektion im Staatssekretariat nachgerückt, wo der Kölner Priester Winfried König zwanzig Jahre tätig war, zuletzt als Leiter der deutschsprachigen Sektion.

Vernetzung ist wichtig. Im Vatikan ebenso wie in der Weltkirche. »Die Deutschen« haben viel Geld. Sie stellen es aber auch zur Verfügung, ohne daraus, wie manche argwöhnen, einen ideologischen Kolonialismus abzuleiten, indem sie »ihre« Themen der Weltkirche aufzwingen wollten. Die hier verhandelten Reformforderungen sind, wie der von Kardinal Mario Grech und seinem Team so engagiert und professionell im Auftrag des Papstes betriebene synodale Prozess zeigt, weltweit ein Thema. Auch wenn Wahrnehmungen und Wertungen, Gewichtungen und Periodisierungen – wen sollte das verwundern – unterschiedlich sind, ganz abgesehen von den Geschwindigkeiten. Was »die Deutschen« mit bischöflichen Hilfswerken wie »Adveniat«, »Missio«, »Misereor« oder »Renovabis« leisten, ist nicht ohne. Wer wollte darauf verzichten? Kurioserweise steigt ja das Kirchensteueraufkommen trotz gigantischer Austrittszahlen hierzulande.

Feindbilder und Narrative

Kollegialität und Dezentralisierung gehör(t)en zu den Leitvokabeln des gegenwärtigen Pontifikates. Manche päpstliche Kommentare und vatikanischen Dokumente der letzten Jahre sprechen eine andere Sprache. Damit wird das Megathema Synodalität konterkariert. Dass es dauern wird, bis sich eine synodale Kultur in der Kirche etabliert hat, dürfte allen klar sein. Auch denen, die nach wie vor eine Kirche haben wollen, in der alles top-down entschieden wird.

Dass es schon »eine gute protestantische Kirche in Deutschland« gibt, ist ein sich hartnäckig haltendes Narrativ, das nicht nur von mangelnder ökumenischer Sensibilität zeugt, sondern auch unfair ist, was die Reformanliegen des Synodalen Weges angeht – auch wenn es Franziskus übernommen hat. Von wem eigentlich? Sind »römische« Interventionen nicht meistens in Deutschland bestellt? Wer hat ein Interesse daran, dass sich das Gespenst vom »deutschen Sonderweg« festgesetzt hat?

Nun ist Ende Juni die Kirchenstatistik 2022 für Deutschland präsentiert und veröffentlicht worden. 24,8 Prozent der Bevölkerung bekennen sich noch zum katholischen Glauben. Mehr als eine halbe Million Katholiken hat 2022 gesagt: »Genug! Ich gehe!« Noch nie zuvor gab es so viele Austritte. In einigen Jahren dürfte der Anteil unter 20 Millionen gerutscht sein.

Woelki und Köln sind ein Dauerthema mit stets neuen, teils erschütternden, teils grotesken Ereignissen (neuestes eine staatsanwaltschaftlich angeordnete Razzia). Der kürzlich veröffentlichte Missbrauchsbericht aus dem Erzbistum Freiburg – die Austrittszahlen erfassen ihn noch nicht – zeigte das eklatante Versagen mehrerer Erzbischöfe, darunter das des Vorgängers des jetzigen Erzbischofs, der auch Vorsitzender der DBK war.

Die Bischöfe von Regensburg, Eichstätt, Passau und Köln, gelegentlich auch Augsburg, scheren regelmäßig aus und schwächen damit die Glaubwürdigkeit der Bischofskonferenz, auch wenn sie – »episkopalziviler Ungehorsam«(Gregor Maria Hoff) – fest davon überzeugt sind, die Gralshüter der reinen Lehre zu sein. Sind alle anderen Bischöfe, die deren Gewissensentscheidung respektieren müssen, auf dem Weg ins Schisma – eine Chimäre, die ebenfalls gern beschworen wird?

Als Papst würde ich sagen: Ich kann mich nicht ständig mit Deutschland beschäftigen. Auf wen hört er? Wem vertraut er? Und was macht der Nuntius? »Mr. Bean« schreibt Bücher über die Diplomatie des Heiligen Stuhls. Aber dem Papst zu sagen: »So geht es nicht weiter, die Menschen treten in Scharen aus, es ist erklärungsbedürftig, dass Bischöfe nach einer Auszeit einfach ohne jede Erklärung weitermachen«, das kann er und will er offensichtlich nicht. Auch nicht nach zehn Jahren im Amt. Bamberg, Paderborn und Osnabrück warten zur Zeit auf einen neuen (Erz-)Bischof.

Die deutsche Kirche schrumpft weiter

Die »Abwärtsspirale« (Annette Zoch, SZ) wird aller Voraussicht nach weitergehen, trotz vieler positiver Entwicklungen (wie z.B. Prävention), die in der Öffentlichkeit kaum mehr wahrgenommen werden oder wahrgenommen werden wollen. Kann man das »Gesundschrumpfen« nennen? Besteht die Lösung, wie bei politischen Parteien, darin, das Profil zu schärfen, ein kantigeres Profil zu entwickeln, das sich vor allem an der »unveränderlichen Lehre« orientiert? Wie einladend ist eine solche Kirche? Wie abschreckend? Die katholische Kirche auf dem Weg zu einer Sekte? Was heißt es, wenn von Kirche nur noch als von einem »Laden« geredet wird, der unreformierbar scheint, oder von »denen da oben«?

Die deutsche Kirche schrumpft – zahlenmäßig. Bedeutungslos ist sie deswegen mitnichten. Funktioniert denn dieser Staat, eine Zivilgesellschaft, ohne den Beitrag und den Einsatz der katholischen Kirche, nicht nur der Caritas?

Aber wir müssen aufpassen, uns nicht nur in theologischen oder spirituellen Blasen zu bewegen und zu bedauern, als säßen wir in einer Löwengrube. Am 1. Juli bekommt das Erzbistum Freiburg Zuwachs, wenn der ehemalige Präfekt des Päpstlichen Hauses, der seit 1995 im Vatikan arbeitete, auf Geheiß des Papstes in sein Heimatbistum zurückkehrt. Freiburg ist nicht Sibirien, auch wenn manche diese Entscheidung so kommentieren und als weitere in einer Reihe von Demütigungen ansehen. Georg Gänswein ist kein Märtyrer.

Krisen im Licht des Evangeliums lesen – und analysieren

»Die große Gefahr einer Krise«, schreibt Andrea Riccardi, Mitbegründer der Gemeinschaft Sant’Egidio, in seinem neuen Buch »Die Kirche brennt« (Würzburg 2023: Echter) »besteht darin, dass man sich mit dem nackten Überleben begnügt, sich an das Heute klammert und dieses nur an einem Früher misst, als ›alles besser‹ war.« Er gibt sich davon überzeugt: »Die Kirche bleibt bei all ihrer Begrenztheit eine große Ressource in der Wüsteneinsamkeit vieler Peripherien, wo es an Bindung und Empathie fehlt.«

Ihm nehmen das viele ab. Wenn ein Bischof darauf hinweist, hören viele weg. Riccardi erinnert auch an die Weihnachtsansprache von Papst Franziskus aus dem Jahr 2020 (nicht von 2014 mit den fünfzehn Krankheitsbildern): »Wer die Krise nicht im Licht des Evangeliums betrachtet, beschränkt sich darauf, die Autopsie einer Leiche durchzuführen.«

Mut schöpfen, Zuversicht bewahren, einer, wie Annette Schavan sie nennt, innerkirchlichen »Insolvenzrhetorik« widerstehen (das besorgen ohnehin die anderen), ist gewiss nicht leicht. Es fällt auch mir immer schwerer. Ich fand und finde Trost bei Autoren wie Tomáš Halík (»Der Nachmittag des Christentums«) oder eben Andrea Riccardi: »Das Christentum ist einer jener Faktoren, die die Gesellschaft zusammenhalten, aber auch Geschwisterlichkeit unter den Nationen stiften. Es ist eine Menschlichkeitsgarantie.« Wer wollte, wer könnte darauf verzichten?

Eine letzte Frage: Wer sagt’s dem Papst? Dass »die Deutschen« (in Einheit mit Rom, wie man leider stets betonen muss) nichts Böses im Schilde führen? Dass sie vielmehr um einen Weg für ein zukunftsfähiges Christentum hierzulande ringen? Apropos: Ich bin Österreicher. Aber seit 23 Jahren in München stationiert.

(Aktualisiert am 2. Juli 2023)