Die Gehässigkeiten, die Franziskus entgegengebracht werden, die Einschätzungen, die ihm intellektuelle Unbedarftheit attestieren, die Polemiken und Verwünschungen nehmen zu. Ich finde den Stil tatsächlich oft unerträglich – und respektlos einem gegenüber, der Verantwortung trägt. Einem gegenüber, der sich à la longue als der verlängerte Arm des Zweiten Vatikanischen Konzils erweisen dürfte, auch wenn ihm augenblicklich von gewissen Seiten jede theologische Kompetenz abgesprochen wird. Dass es Bischöfe und Kardinäle gibt, die behaupten oder andeuten, Franziskus habe den Boden der katholischen Tradition verlassen, was er sagt, schreibt und predigt entspreche nicht der katholischen Lehre, ist der eigentliche Skandal.

Kein theologisches Leichtgewicht

Auch mir gefällt manches nicht, was, ins Deutsche übersetzt, holprig daherkommt, schräg wirkt oder gar verletzend. Und trotzdem: Dass ich nicht darauf herumreite, hat damit zu tun, dass mich dieser Papst inspiriert, immer noch und immer wieder inspiriert. Davor, Franziskus für ein »theologisches Leichtgewicht« zu halten, hat Kardinal Walter Kasper schon vor Jahren gewarnt.

Ein Mitbruder schrieb neulich: »[N]ach fünf Jahren in Rom ist meine Faszination, was Papst Franziskus angeht, weithin ungebrochen. Was soll ich mich bei seinen unleugbaren Schwächen aufhalten, wenn dieser Mann es schafft, mich fast täglich aus meiner Bequemlichkeit herauszulocken, mal zu begeistern, mal zu provozieren oder zu irritieren, indem er an Wunden rührt und an Sehnsüchte appelliert. Ach, wenn doch etwas mehr vom Elan dieses unangepassten ›Opas‹ und knorrigen Mitbruders auf mich überspringen könnte! Im Gegensatz zu dem, was man manchmal liest, scheint mir der theologische Gehalt seiner Predigten und Briefe sehr hoch zu sein. Wer hoch aber mit abgehoben oder abstrakt gleichsetzt, wird meistens enttäuscht. Ich, für meinen Teil, entdecke sehr häufig Bezüge zu dem, was mich im konkreten Alltag umtreibt.«

Obwohl ich viel von und über Franziskus gelesen habe, lerne ich noch dazu und entdecke bei anderen Einsichten, die mir dabei helfen, mich nicht auf ein Bild festzulegen. Das Interview von Antonio Spadaro SJ, auf welches ich im August aufmerksam machte (»Pontifikat der Aussaat«), oder die Beobachtungen von Gudrun Sailer (»Der redende Papst, der schweigende Papst«) in ihrer Kolumne »Römische Notizen« auf »katholisch.de« vom 10. November gehören dazu! Sie bereichern, weil sie den Horizont erweitern.

Das Glaubensbekenntnis, Vers für Vers ausgelegt

Drei Mal bereits hat der Gefängnisseelsorger Marco Pozza aus Padua Franziskus interviewt. Jedes Mal ist aus den stundenlangen Gesprächen ein Buch entstanden (»Padre nostro«, 2017, »Ave Maria«, 2018, »Io credo, noi crediamo«, 2020). Nach dem Vaterunser- (2018) und dem Ave-Maria-Buch (2019) gibt es jetzt auch eine deutsche Übersetzung des Ende September 2019 geführten Interviews über das Credo: »Ich glaube. Wichtige Lebensfragen neu interpretiert«.

»Der christliche Glaube«, so Franziskus im Vorwort, »ist kein Monolith, kein ›Granitblock‹« (10). Er erinnert daran: »Mit dem Denzinger zum Beispiel kann man den Glauben nicht weitergeben« (37; vgl. auch 61). Diese kleine Spitze gegen die »Denzinger-Theologie« offenbart, wie Franziskus Glaubensweitergabe auffasst: nicht als das bloße Weitergeben und Wiederholen von Sätzen. Sondern persönlich, durch Erzählen. Durch anschauliche, eingängige Bilder.

Natürlich ist eine Dokumenten-Sammlung wichtig und gehört auf jeden Schreibtisch von Theologen und Bischöfen: Nach seinem ersten Bearbeiter, dem Exegeten und Dogmatiker Heinrich Denzinger († 1883) abgekürzt »Denzinger« genannt, war dieses seit Jahrzehnten neu aufgelegte, ständig ergänzte Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen weit verbreitet: »Enchiridion symbolorum, definitiorum et declarationum de rebus fidei et morum«). Es war weltweit in Verwendung. Karl Rahner SJ war von der 28. bis zur 30. Auflage Bearbeiter. Aus dem »Denzinger« wurde später der »Denzinger-Schönmetzer« (DS), zuletzt der »Denzinger-Hünermann« (DH), nach den Bearbeitern Adolf Schönmetzer SJ und Peter Hünermann in der Nachfolge Rahners.

Von Josef Neuner SJ erschien 1938 eine Auswahl der wichtigsten Dokumente auf Deutsch, die auch »Laien« verwenden konnten: »Der Glaube der Kirche in den Urkunden der Lehrverkündigung«. Zusammen mit Heinrich Roos SJ übersetzte er »Denzinger«-Texte aus dem Lateinischen ins Deutsche. Seine Mitbrüder Alfred Delp SJ, Karl Rahner SJ und Hugo Rahner SJ arbeiteten ihm zu (vgl. J. Neuner, Der indische Joseph. Erinnerungen aus meinem Leben. Feldkirch 2005, 24-25). Es war eine Verlegenheitsarbeit bzw. ein Zeitvertreib: Neuner wartete auf sein Visum für Indien, wo er jahrzehntelang in Pune Theologie dozierte. Ab der zweiten Auflage kümmerte sich Karl Rahner, ab der achten Auflage (1971) Karl-Heinz Weger SJ um die jeweilige Aktualisierung. In Indien wurde dann eine englische Ausgabe angefertigt, oft kurz »Neuner-Dupuis« genannt, nach dem zweiten Bearbeiter Jacques Dupuis: »Neuner-Dupuis«: »The Christian Faith in the Doctrincal Documents of the Catholic Church«.

Der Glaube wird im Dialekt vermittelt

Es kommt nach Franziskus auf die Art der Vermittlung an: »Wie Deine Großmutter es getan hat: sehr konkret, (…) Und der Glaube wird im Dialekt vermittelt, immer und überall.« (36) Und er legt dann, Satz für Satz, das Credo aus.

Ich bringe nur einige prägnante, mich ansprechende Textproben, um Appetit auf die Lektüre zu machen.

► Hinabgestiegen in das Reich des Todes: »Jesus steigt tatsächlich ins Reich des Todes. Und wenn ich dann diese christlichen ›Saubermänner‹ sehe, die sich im Vollbesitz der Wahrheit glauben, der Rechtgläubigkeit, der einzig wahren Lehre, Leute, die immer sagen: ›Es muss genauso gemacht werden und nicht anders‹, Leute, die sich nicht einmal die Hände schmutzig machen, um einem anderen aufzuhelfen; wenn ich solche Christen sehe, sage ich: Ihr seid keine Christen. Ihr seid Theisten, getauft mit den Wassern des Christentums, aber ihr seid dort noch lange nicht angekommen. Wenn Gott sich bis zu diesem Punkt die Hände schmutzig macht, wenn er in unsere Hölle, unsere Unterwelt hinabsteigt, dann müssen wir seinem Beispiel folgen.« (44 f.)

► Ich glaube an den Heiligen Geist: »Der Heilige Geist bewirkt, dass wir uns unserer selbst bewusst werden. Wenn das zur Scham führt – was so gut wie immer der Fall ist  –, dann ist dies eine Gnade. (…) Das Bewusstsein, erlöst zu werden, ist immer mit dem Gefühl der Scham verbunden: Sieh mal an, ich habe dies oder jenes getan. Mein Leben wäre eine Katastrophe, wenn mich nicht jemand an der Hand nehmen würde. Dies ist eine der Gaben des Heiligen Geistes: Er bewahrt die Scham.« (58 f.) ‒ »Ein Christentum ohne den Geist wäre nur freudloser Moralismus.« (68)

► Ich glaube … an die Auferstehung der Toten: »Von der großen Schauspielerin Anna Magnani heißt es, dass sie einmal zu einem ihrer Maskenbildner gesagt hat: ›Lass mir meine Falten. Ich habe ein ganzes Leben dafür gebraucht.‹ Nur wenige Menschen sind in der Lage, das so zu sehen. Ständig versuchen wir, die unschönen Dinge zu verstecken – Wunden und Narben. Wir können uns einfach nicht vorstellen, dass auch sie eine Schönheit besitzen, dass sie Ausdruck eines Versprechens sein können. Genauso ist es mit der Auferstehung. Wir begraben unsere Toten, beten für sie, aber glauben wir denn wirklich an die Auferstehung? (…) Wir können mit unseren Toten sprechen, mit unseren Vorfahren. Wir können sie fragen: Wo bist du? Denn sie sind bereits in Gott, sind Glieder des auferstandenen Leibes Jesu. Und am Ende kommt die universelle Auferstehung für alle.« (132 f.)

»Wir glauben, dass Jesus auferstanden ist, dass Jesus in diesem Moment lebt. Glaubt ihr denn, dass Jesus lebt? Und wenn er lebt, glaubt ihr, dass er uns sterben lassen, uns nicht auferwecken würde? Nein! Er erwartet uns, und weil er auferstanden ist, wird die Kraft seiner Auferstehung auch uns erwecken. (…) Das ewige Leben beginnt schon in diesem Moment, es beginnt während unseres ganzen Lebens, das sich schließlich auf den Moment der endgültigen Auferstehung ausrichtet.« (143)

»Wir sind auf dem Weg zur Auferstehung. Jesus sehen, Jesus begegnen: Das ist unsere Freude! Wir werden alle zusammen sein –nicht hier auf dem Petersplatz, aber an einem anderen Ort – uns und mit Jesus freuen. Das ist unsere Bestimmung!« (144)

► Und an das Ewige Leben: »Ich weiß es nicht … ich habe das Jüngste Gericht noch nie erlebt … Wenn ich mir vorstelle, wie dieses Gericht sein mag, dann denke ich an eine Umarmung. Der Herr drückt mich an sich und sagt zu mir: ›Hier warst du treu, hier weniger. Aber komm trotzdem, wir wollen feiern, weil du angekommen bist‹. (…) Ich stelle mir seine Umarmung vor und meinen Blick, der sich zu ihm erhebt. Ich würde nicht wagen, ihn anzusehen, ohne zuvor seine Umarmung gespürt zu haben. Ich weiß nicht, aber ich glaube, dass das Jüngste Gericht so vonstatten gehen wird. Vielleicht ist das ja reine Fantasie, aber ich glaube daran.« (150 f.)

Sprechen solche Bilder nicht an? Vielleicht mehr als hohe, hehre Theologie, die mit Begriffen arbeitet? Katechismusantworten, von Natur aus verknappte Sätze, oder Dogmen oder auf Konzilien entwickelte Vorschriften kann man nachsprechen, ihren Wortlaut sogar auswendig lernen. Aber es kommt darauf an, dass sie zu Herzen gehen, dass sie eine geistig-geistliche Nährkraft entwickeln.

Tradition ist lebendig – und wächst

Eine permanente Gefahr, ein Wort von Gustav Mahler aufgreifend (»Tradition ist nicht die Anbetung der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers.«), benennt Papst Franziskus: »Wir verfallen manchmal in den Glauben, dass wir zur Bewahrung der Tradition ein Museum errichten müssen, ein Museum der Dinge. Und schon wird die Kirche zum Museum. Nein, die Tradition ist lebendig, nicht einfach nur eine Ansammlung von Dingen und Riten … Sie lebt! Und wächst.« (99)

Franziskus mag kein akademischer Theologe sein wie sein Vorgänger Benedikt XVI., der jahrzehntelang an Universitäten gelehrt hat und auch als Kardinal und Papst theologische Bücher schrieb. Er hat nicht, wie Paul VI. zum Abschluss eines »Jahres des Glaubens« am 30. Juni 1968 sein eigenes »Credo des Gottesvolkes« gesprochen. Aber Franziskus lässt sich in Gespräche verwickeln, er gibt Auskunft, er hat dabei konkrete Menschen im Blick – und verkündigt so denselben Glauben in einfachen, ansprechenden Worten. Sie lösen etwas aus.

Franziskus erinnert sich in »Ich glaube« an einen Jugendlichen, der ihn beim Weltjugendtag in Krakau (2016) fragte, wie er seinen Freunden, die nicht an Gott glauben können, von seinem Glauben erzählen könne. Damals sagte der Papst unter Rückgriff auf Franz von Assisi: »Das Letzte, was du tun sollst, ist Reden. Lebe deinen Glauben, dann werden sie dich fragen: ›Warum lebst du denn so?‹ Das ist mit Zeugnis vom Glauben gemeint.« (61)

Papst Franziskus gibt Zeugnis von seinem Glauben. Und man versteht es.